Read: 1993 Nov, Familie



4. Die Familie in der Weltgemeinschaft

Die Familie befindet sich heute, wie die gesamte Welt, in einer Übergangsphase. In allen Kul-
turkreisen zerfallen oder zerbrechen Familien unter dem Druck von wirtschaftlichem und politischem
Umbruch. Sie werden angesichts der sittlichen und religiösen Verwirrung immer schwächer.

»Die Bedingungen, unter denen die Familie lebt, gelten auch für die Nationen - was in der Fami-
lie geschieht, spielt sich auch in der Nation ab.« (Foundation of World Unity, p.l00)

Die Bahá’í halten diese Unordnung für ein Zeichen, daß die Menschheit sich bei ihrer kollektiven
Entwicklung auf ein neues Zeitalter zubewegt, das Zeitalter der Reife. Da die Familie die Kerneinheit
der Gesellschaft bildet, muß sie bei diesem Prozeß ebenfalls umgeformt und neu belebt werden und
zwar nach denselben Prinzipien, die die gesamte Zivilisation neu gestalten.

Das Schlüsselprinzip für dieses neue Zeitalter ist die Einheit der Menschheit. »Das Wohlerge-
hen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit,« versicherte Bahá’u’lláh, der Stifter des Ba-
há’í-Glaubens, schon vor mehr als einem Jahrhundert, »sind unerreichbar, wenn und bevor nicht ihre
Einheit fest begründet ist.« (Die Weltordnung Bahá’u´lláhs, S.296) Das Anerkennen der gegenseitigen
Verflechtung und Abhängigkeit aller Völker bedeutet, daß auf diesem Planeten jeder Teil der Gesell-
schaft einschließlich der Familie neu gestaltet werden muß.

Einheit in der Familie

»Wenn in einer Familie Liebe und Einklang herrschen, wird diese Familie vorankommen und
geistig erleuchtet werden. «(Einheit der Familie, S.22)

Die Bahá’í-Einstellung gegenüber der Einheit der Familie verbindet Elemente traditioneller
Weisheit mit fortschrittlichen Grundsätzen und praktischen Mitteln. Wenn wir uns fest an diese Lehren
halten, bilden sie ein Bollwerk gegen die Kräfte des Zerfalls und Rahmenbedingungen für die Grün-
dung starker, gesunder, einiger Familien.

Grundlage und Voraussetzung für eine Bahá’í-Familie ist die liebevolle Beziehung zwischen
Mann und Frau. Die Ehe ist als göttliche Einrichtung dazu bestimmt, ein Paar »körperlich und geistig
so zu verbinden, »...daß sie einander ständig in ihrem geistigen Leben vervollkommnen«. (Einheit der
Familie, S.12)

Ein Mann und eine Frau, die sich aus freien Stücken füreinander entschieden und die Zustim-
mung ihrer Eltern zur Heirat bekommen haben, heiraten dem Bahá’í-Gesetz entsprechend in Anwe-
senheit von Zeugen, die das gewählte Verwaltungsgremium der Gemeinde, der örtliche Geistige Rat,
benannt hat. Braut und Bräutigam sprechen: »Wahrlich, wir wollen alle an Gottes Willen festhalten«
(Liebe und Ehe, S.37), und mit diesen Worten verpflichten sich beide Gott gegenüber und dadurch
einander.

Ein Zweck der Ehe ist, eine neue Generation ins Leben zu rufen, die Gott liebt und der Mensch-
heit dient. Daher hat die Familie zur Aufgabe, eine liebevolle, von Achtung geprägte und harmonische
Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu schaffen.

Harmonie und Zusammenarbeit werden in der Familie wie in der Welt durch ein ausgewogenes
Maß an Rechten und Pflichten bewahrt. Alle Familienmitglieder »haben gegeneinander und gegenüber
der Familie als Ganzes Pflichten und Verantwortlichkeiten,« die »wegen der natürlichen Beziehungen
der Familienangehörigen zueinander« verschieden sind (Einheit der Familie, S.48).

Kinder haben z.B. die Pflicht, ihren Eltern zu gehorchen. Sie haben aber dementsprechend auch
ein Anrecht auf Fürsorge, Erziehung und Schutz. Die Mütter, die sie zur Welt bringen und als erste
erziehen, sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für ihre geistige Erziehung und ein liebevoll
umhegendes Heim verantwortlich. Die Väter tragen hauptsächlich, aber wiederum nicht ausschließlich,
die Verantwortung für das materielle Wohl der Familie und die Schulbildung der Kinder.

Die in den Bahá’í-Lehren befürworteten sittlichen Maßstäbe für den einzelnen verurteilen viele
jener Faktoren, die zum Zerbrechen von Familien beitragen. Alkohol ist als Droge, die das Bewußtsein
verändert, für die Bahá’í verboten. Keine Art der Gewalt oder des Mißbrauchs wird in der Familie je-
mals geduldet. So steht in den Heiligen Schriften der Bahá’í zu lesen:» Die Unversehrtheit der Famili-
enbande muß beständig beachtet werden, und die Rechte der einzelnen Mitglieder dürfen nicht verletzt
werden.« (Liebe und Ehe, S.44)

Obwohl Bahá’u’lláh die Scheidung nachdrücklich mißbilligt, wird sie auf Grund von unüberwind-
barer Abneigung zwischen den Ehepartnern erlaubt. Sie kann aber erst nach Ablauf eines Wartejah-
res, in dem das Paar getrennt leben und sich intensiv bemühen muß, seine Schwierigkeiten beizule-
gen, bewilligt werden. Auf diese Weise wird es vor übereilten Entscheidungen und unbesonnenen E-
motionen beschützt. Dadurch gelingt vielen Paaren, ihre Ehe im Laufe dieses Jahres des Nachden-
kens wieder in Ordnung zu bringen. Sollte sich dennoch zeigen, daß eine Aussöhnung unmöglich ist,
kann das Paar sich scheiden lassen.

Gleichwertigkeit der Geschlechter
Der Grundsatz der Gleichwertigkeit verändert in der Bahá’í-Ehe die Beziehung zwischen Mann
und Frau. Da ihr gleichlautendes Ehegelöbnis ihren Status als gleichberechtigte Partner beinhaltet,
sollte weder der Mann, noch die Frau dominieren. Entscheidungen sollten gemeinsam getroffen wer-
den.

Stets sollte in der Familie wie in der gesamten Gesellschaft »...nicht despotische Machtaus-
übung, sondern der Geist freier, liebevoller Beratung« (Einheit der Faltlilie, S.47) die Atmosphäre
bestimmen.

Die Prinzipien der Bahá’í-Beratung helfen uns, jedes in der Familie vorkommende Problem of-
fen, ehrlich und taktvoll zu besprechen. Dabei soll ermöglicht werden, daß »die Wahrheit offenbar
wird« (Beratung, S.11) und zwar in einer Weise, daß das Problem zum Wohle aller gelöst wird. Wenn
ein Ehepaar oder eine Familie die Beratung richtig handhabt, ist sie ein wirksamer Weg zum Bewahren
der Einheit.

Ein Ehepaar, das die Gleichwertigkeit akzeptiert und von der Beratung Gebrauch macht, wird
eine Flexibilität erlangen, die ihm ermöglicht, die Anforderungen einer sich rasch verändernden Welt
zu bewältigen. Obwohl Mann und Frau in bestimmten Bereichen sich gegenseitig ergänzende Fähig-
keiten und Aufgaben haben, sind die Rollen nicht starr definiert, sondern können, wenn nötig, ange-
paßt werden, so daß den Bedürfnissen jedes Familienmitglieds wie auch der ganzen Familie entspro-
chen werden kann. Obwohl die Frauen ermutigt werden, ihre berufliche Laufbahn zu verfolgen, sollte
dies in einer Weise geschehen, die mit ihrer Mutterrolle nicht in Konflikt gerät. Gleichzeitig werden die
Väter von Pflichten im Haushalt und dem Großziehen der Kinder nicht freigestellt.

Wenn die Beziehungen innerhalb der Familie von der ihnen gebührenden Gerechtigkeit be-
stimmt sind, wird dies die Errichtung des Friedens in der Welt entscheidend fördern. Solange den
Frauen die Gleichberechtigung und die Achtung in der Familie verweigert wird, entwickeln Männer und
Söhne schädliche Einstellungen und Gewohnheiten, die sie an den Arbeitsplatz, in die Politik und
schließlich in die internationalen Beziehungen hineintragen. Sobald immer mehr Kinder in Familien
aufwachsen, in denen die Rechte aller Mitglieder respektiert und Probleme mit Hilfe von Beratung ge-
löst werden, steigt die Aussicht auf Frieden in der Welt erheblich.

Erziehung und Familie

Das Kind erhält seine Bildung zwar in der Schule, aber sein Charakter und seine sittliche und
geistige Einstellung wachsen zuhause heran und wer den hier geformt. Deshalb muß die Familie in
allen Tugenden geschult werden. Geduld, Treue, Vertrauenswürdigkeit, (Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und
ähnliche Tugenden sind die Bausteine des Charakters. Die Tugenden, die in jedem heiligen Glauben
als allgemein gültige Elemente der Geistigkeit bezeichnet werden, sind die Widerspiegelung des Gött-
lichen in jedem Menschen.

Bei jedem Familienmitglied sollen also die edelsten Eigenschaften und Werte gehegt und ge-
pflegt werden. Die Eltern müssen aber auch für die ineinander greifende Entwicklung aller in ihren Kin-
dern schlummernden Fähigkeiten im geistigen, sittlichen, intellektuellen, gefühlsbedingten und körper-
lichen Bereich sorgen. Mädchen und Jungen sollten also eine Schulbildung auf der Basis eines in den
Grundzügen identischen Lehrplans erhalten. Sollten begrenzte finanzielle Mittel eine Entscheidung
erfordern, so ist den Mädchen als den künftigen Erzieherinnen der nächsten Generation vor den Jun-
gen ein Vorrecht einzuräumen.

Die Familie und die Gemeinde

Im Bahá’í-Glauben arbeiten über 17.000 Ortsgemeinden in über 200 unabhängigen Ländern
und Territorien. In gewissem Sinne funktionieren diese Gemeinden wie erweiterte Familien.

Bahá’í gibt es in allen Nationen, ethnischen Gruppen, Kulturen, Berufen und Gesellschafts-
schichten. Obwohl die Art und Weise, wie Bahá’í Hochzeiten gefeiert werden, in den einzelnen Kultur-
kreisen recht unterschiedlich ist, sind die Gesetze und die Trauformel weltweit gleich und gelten, ob die
Partner Bahá’í sind oder nicht. Die Bahá’í haben überall auf der Welt die Erfahrung gemacht, daß die
Bahá’í-Prinzipien und -Gesetze, die das Bahá’í-Familienleben kennzeichnen, Liebe und Einheit för-
dern.

Fazit

Während die hier genannten Grundsätze in der ganzen Welt schrittweise in die Praxis umge-
setzt werden, entstehen Familien, die imstande sind, beim Aufbau einer einigen Weltgesellschaft eine
wichtige Rolle zu spielen, denn letztendlich muß zwischen Familie, Nation und Weltkultur unweigerlich
eine Verknüpfung geschaffen werden:

Vergleiche die Nationen der Welt mit den Mitgliedern einer Familie. Eine Familie ist eine Nation
im Kleinen. Erweitere einfach den Kreis des Haushalts, und du erhältst die Nation. Vergrößere den
Kreis der Nationen, und du hast die gesamte Menschheit.« (Foundations of World Unity, p.l00)

5. Die Bahá’í-Gemeinde und die Vereinten Nationen

Ein Beitrag von Roland Philipp
Vertreter der Bahá’í International Community bei den Vereinten
Nationen in Wien und Vorsitzender des Jugendkomitees der NGOs

Die Bahá’í International Community« (BIC) ist in Vertretung der weltweiten Bahá’í-Gemeinde als regie-
rungsunabhängige Organisation bei und für die Vereinten Nationen tätig. Die um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts von Bahá’u’lláh in Persien gestiftete Bahá’í-Religion ist heute mit weltweit rund 6 Millio-
nen Gläubigen in praktisch allen Ländern der Welt vertreten und bietet damit in sich ein Beispiel des
harmonischen Zusammenwirkens von Menschen Verschiedenster Nationalität, Rasse, Klasse und
Religion.

Die zentrale Lehre der Bahá’í-Religion ist das Prinzip der Einheit der Menschheit, deren Verwirkli-
chung letztlich zu einem umfassenden und dauerhaften Welt Frieden fuhren wird. Dies setzt nach den
Lehren Bahá’u’lláhs allerdings eine grundlegende geistige Wandlung der Menschen und der Gesell-
schaft voraus. Bahá’u’lláh hat dafür in seinen Schriften umfassende geistige und gesellschaftliche Leh-
ren und Prinzipien dargelegt, die notwendigen Grundprinzipien einer neuen Weltordnung festgehalten
und den Ablauf dieses umfassenden Umbruchsprozesses beschrieben.

Ausgestattet mit einer weltumspannenden Organisationsstruktur und im Besitz vielfältiger und aktu-
eller Erfahrungen mit den subtilen Bedürfnissen und den komplexen Zusammenhängen multikulturel-
len Zusammenlebens bringt die Bahá’í International Comrnunity einerseits die konkreten Vorstellungen
der Bahá’í-Religion für die Befriedung der Völker und die Harmonisierung ihrer berechtigten Bedürfnis-
se in die Arbeit der Vereinten Nationen ein und steht andererseits nur die Verbreitung der Anliegen und
der Programme der Vereinten Nationen im Rahmen der Aktivitäten der weltweit in rund 100.000 Ort-
schaften tätigen Bahá’í zur Verfügung.

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