Read: 2002 Aug 26, Religion und Entwicklung am Scheideweg -



Religion und Entwicklung am Scheideweg:
Konvergenz oder Divergenz?*
Eine Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde**
anlässlich des Weltgipfels für Nachhaltige Entwicklung


Internationale Bahá’í-Gemeinde
BIC Dokument-Nr. 02-0826
Johannesburg, Süd-Afrika
26. August 2002


Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind ethnische, rassische und nationalistische Vorurteile in steigendem Maße der Einsicht gewichen, dass die Menschheit eine einzige Familie und die Erde ihre gemeinsame Heimat ist1. Die Organisation der Vereinten Nationen (UN), die als Reaktion auf dieses erwachende Verständnis gegründet wurde, wirkt unermüdlich darauf hin, eine Welt zu gestalten, in der alle Völker und Nationen gemeinsam in Frieden und Harmonie leben können. In ihrem Bemühen, eine solche Welt zu schaffen, haben die Vereinten Nationen ein bemerkenswertes Rahmenwerk an internationalen Institutionen, Verfahren, Vereinbarungen und globalen Aktionsplänen ins Leben gerufen. All das hat dazu beigetragen, Konflikten und Kriegshandlungen vorzubeugen, die Menschenrechte zu verteidigen, die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zu fördern und die materiellen Lebensbedingungen für unzählige Einzelne und Gemeinschaften zu verbessern.
Trotz dieser bedeutenden Errungenschaften müssen die Vereinten Nationen sowohl die konstruktive Rolle, welche die Religion bei der Schaffung einer friedvollen und prosperierenden Weltordnung spielen, als auch den zerstörerischen Einfluss, den religiöser Fanatismus auf Stabilität und Fortschritt in der Welt ausüben kann, erst noch voll erfassen. Die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber der Religion ist deutlich auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit zu erkennen, auf dem die Vereinten Nationen die Religionsgemeinschaften meist nur als Kanäle für die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen und als Mittel zur Umsetzung von Entwicklungsvereinbarungen und -programmen betrachten. Außerdem ist das Räderwerk der Vereinten Nationen für Menschenrechte wohl in Gang gesetzt worden, um religiöse Intoleranz und Verfolgungen zu verurteilen2, aber die UN-Entwicklungsmaßnahmen und -programme3 haben kaum auch nur damit begonnen, religiöse Bigotterie als eines der größten Hindernisse für Frieden und Wohlfahrt anzusprechen4.

Religion als Grundlage für Zivilisation und Fortschritt
Es wird zunehmend deutlich, dass der Übergang zum krönenden Stadium im jahrtausendelangen Prozess der Gestaltung des Planeten zu einer einzigen Heimat für die gesamte Menschheitsfamilie nicht in einem geistigen Vakuum erreicht werden kann. Religion, so verkünden die Bahá’í-Lehren, „ist die Quelle der Erleuchtung, die Ursache von Entwicklung und der belebende Antrieb allen menschlichen Fortschritts“5, und sie „ist seit jeher die Grundlage aller Zivilisation und allen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit gewesen.“6 Sie ist die Quelle von Sinn und Hoffung für die überwiegende Mehrheit der Erdenbewohner, und sie hat eine unbegrenzte Macht, bei ihren Anhängern Opferbereitschaft, Wandel und langanhaltende Hingabe zu wecken7. Es ist daher unvorstellbar, dass eine friedvolle und gedeihliche globale Gesellschaft – eine Gesellschaft, die eine grandiose Vielfalt an Kulturen und Völkern einschließt – geschaffen und nachhaltig aufrecht erhalten werden kann, ohne die großen Weltreligionen direkt und maßgeblich an ihrer Gestaltung und Aufrechterhaltung zu beteiligen8.
Gleichzeitig kann nicht geleugnet werden, dass die Kraft der Religionen dazu missbraucht wird, Nachbarn gegeneinander aufzubringen. Die Bahá’í-Schriften legen dar, dass „Religion eine Quelle der Kameradschaft, die Ursache von Einheit und der Nähe von Gott zum Menschen sein muss. Wenn sie Hass und Kampf erregt, ist es klar, dass das Fehlen von Religion vorzuziehen ist und ein unreligiöser Mensch besser ist als einer, der sich zu ihr bekennt.“9 Solange geduldet wird, dass religiöse Feindseligkeiten die Welt destabilisieren, wird es unmöglich sein, weltweit Strukturen nachhaltiger Entwicklung aufzubauen: und genau das ist doch das Ziel dieses UN-Gipfels.

Religion und die Vereinten Nationen:
Zusammenarbeit für Frieden und Gerechtigkeit
Vor dem Hintergrund der Geschichte des religiösen Fanatismus ist es verständlich, dass die Vereinten Nationen zurückhaltend sind, die Religion in ihre Verhandlungen einzubeziehen. Jedoch können sie es sich nicht länger leisten, den unermesslichen Nutzen, den Religionen der Welt erbracht haben und nach wie vor erbringen, zu ignorieren, genauso wenig wie ihr Potenzial für heilsame und weitreichende Beiträge zur Errichtung einer friedvollen, prosperierenden, nachhaltigen Weltordnung. Die Vereinten Nationen werden nämlich eine solche globale Ordnung nur in dem Maße erfolgreich aufbauen können, wie sie sich die Kraft und die Vision von Religion zu Nutze machen. Hierzu wird es notwendig sein, Religion nicht nur als ein Vehikel für das Übermitteln und Ausführen von Entwicklungs-initiativen anzusehen, sondern als aktiven Partner in der Ausarbeitung, Gestaltung, Implementierung und Evaluierung globaler Vereinbarungen und Programme10. Die historisch gerechtfertigte Mauer zwischen den Vereinten Nationen und den Religionen muss fallen11, um den Erfordernissen einer um Einheit und Gerechtigkeit ringenden Welt gerecht zu werden12.
Die Hauptverantwortung jedoch liegt bei den Religionen selbst. Die Anhänger der Religionen und, wichtiger noch, die religiösen Oberhäupter müssen zeigen, dass sie bei dem großen Unterfangen, eine nachhaltige Weltgesellschaft zu errichten, würdige Partner sind. Es wird von den religiösen Führern eine gewissenhafte und unermüdliche Anstrengung erfordern, religiöse Bigotterie und Aberglauben13 aus ihren Glaubenstraditionen zu verbannen. Es wird nötig sein, dass sie sich das Prinzip der Gewissensfreiheit für alle Menschen, auch für ihre eigenen Anhänger14, zu eigen machen und religiöse Ausschließlichkeits- und Endgültigkeitsansprüche aufgeben15.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Anerkennung der Religion als Partner der Vereinten Nationen anders als schrittweise vonstatten geht, oder dass religiöse Feindseligkeiten in kurzer Zeit beendet werden. Aber die verzweifelten Nöte der Menschheitsfamilie verbieten einen weiteren Aufschub darüber, die Rolle der Religionen anzusprechen.

Religion und Vereinte Nationen: Mögliche erste Schritte
Die Vereinten Nationen könnten den Prozess einer echten Einbindung der Religionen in Erörterungen über die Zukunft der Menschheit damit beginnen, dass sie zu einer ersten Versammlung religiöser Oberhäupter einladen. Diese könnte vielleicht durch den Generalsekretär einberufen werden. Als vordringlichste Maßnahme könnten die religiösen Oberhäupter zu einem Abkommen über Religions- und Glaubensfreiheit aufrufen, das mit Unterstützung der Religionsgemeinschaften so schnell wie möglich von den Regierungen der Welt zu verfassen und zu ratifizieren wäre16. Solch eine Maßnahme der religiösen Oberhäupter der Welt, die ihre Bereitschaft signalisieren würde, Gewissensfreiheit für alle Menschen zu akzeptieren, würde die Spannungen in der Welt erheblich verringern. Diese Versammlung könnte die Gründung eines ständigen Forums der Religionen innerhalb der Vereinten Nationen erörtern, das sich anfänglich vielleicht am Vorbild des jüngst gegründeten Permanenten UN-Forums für Indigene Völker zu orientieren hätte. Die Schaffung eines solchen Gremiums wäre ein wichtiger erster Schritt zur vollen Einbindung der Religion in die UN-Arbeit zur Errichtung einer friedvollen Weltordnung17.
Die religiösen Oberhäupter ihrerseits werden zeigen müssen, dass sie würdig sind, an einem solchen Forum teilzunehmen. Nur diejenigen, die ihren Anhängern deutlich machen, dass Vorurteile, Bigotterie und Gewalt keinen Platz im Leben eines religiösen Menschen haben, sollten zur Teilnahme an der Arbeit dieser Körperschaft eingeladen werden.

Das verheißene Reich von Frieden und Gerechtigkeit
Es ist offensichtlich, dass die Menschheit um so länger unter den Heimsuchungen von Ungerechtigkeit und Zwietracht leiden muss, je weiter die Vereinten Nationen eine bedeutsame Einbindung der Religion in ihre Arbeit hinauszögern18. Es ist ebenfalls klar, dass Frieden und Wohlfahrt ein Trugbild bleiben werden, solange die Religionen der Welt nicht dem Fanatismus abschwören und entschieden daran arbeiten, ihn aus ihren Reihen zu verbannen. Die Verantwortung für die bedrohliche Lage der Menschheit liegt nämlich größtenteils bei den religiösen Oberhäuptern der Welt. Sie sind es, die ihre Stimmen erheben müssen, um dem Hass, der Ausschließlichkeit, der Unterdrückung des Gewissens, der Verletzung der Menschenrechte, der Verweigerung der Gleichberechtigung, der Auflehnung gegen die Wissenschaft sowie der Verherrlichung des Materialismus, der Gewalt und dem Terrorismus, die im Namen religiöser Wahrheit verübt werden, ein Ende zu setzen. Darüber hinaus sind es die Anhänger aller Religionen, die ihr eigenes Leben verändern und sich in das Gewand der Opferbereitschaft und des Dienstes an der Wohlfahrt anderer kleiden müssen, um dadurch zur Verwirklichung des lange versprochenen Reichs von Frieden und Gerechtigkeit auf Erden beizutragen.

Anmerkungen
1. Mit dieser Einsicht entwickelte sich das Bewusstsein, dass weltweiter Friede und weltweites Wohlergehen unmöglich sind, solange immer wieder Menschenrechte verletzt werden, Frauen die Gleichbehandlung versagt wird, ethnische und rassische Minderheiten diskriminiert, die verheerenden Auswirkungen von Armut ignoriert werden und uneingeschränkt nationale Souveränität ausgeübt wird.
2. Leider ist es den Vereinten Nationen über ihre Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung auf Grund der Religion oder der Überzeugung [Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Discrimination Based on Religion or Belief] hinaus bisher nicht gelungen, eine Konvention über Religions- und Glaubensfreiheit hervorzubringen. Dass die Vereinten Nationen Erklärungen der Generalversammlung zu Rasse und zu Frauen in Konventionen umwandeln konnten, unterstreicht nur die Erfolglosigkeit auf dem Gebiet der Religion und des Glaubens – das heißt, die Vereinten Nationen haben nach Erstellung der Erklärung über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung [Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination] und der Erklärung über die Beseitigung der Diskriminierung der Frau [Declaration on the Elimination of Discrimination against Women] die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung [International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination] und die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau [Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women] geschaffen.
3. Wenn auch einige weltweite Aktionspläne, die bei Konferenzen der Vereinten Nationen in jüngster Zeit erarbeitet worden sind, darauf hindeuten, dass der Missbrauch von Religion der Entwicklung im Wege steht, enthalten die wenigen diesbezüglichen Hinweise dort weder eine Erörterung der Auswirkungen religiöser Bigotterie und Gewalt auf Entwicklung und Sicherheit, noch bieten sie nennenswerte Lösungen an. (Siehe zum Beispiel Wiener Erklärung und Aktionsprogramm [The Vienna Declaration and Programme of Action], II-22, 38; Kopenhagener Erklärung und Aktionsprogramm [The Copenhagen Declaration and Programme of Action], 69; Aktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz [The Platform for Action of the Fourth World Conference on Women], 24, 80 (f), 131, 224; Habitat-Agenda [The Habitat Agenda], 25; Wir, die Völker: Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert [We the Peoples: the Role of the United Nations in the Twenty-First Century], 200; und Erklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz [The Declaration of the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance], 59-60.) Die Agenda 21 erwähnt zwar Religion, es wird aber kein Bezug auf die Auswirkungen genommen, die ihr Missbrauch auf Entwicklung hat (siehe Agenda 21, 5.53, 6.1, 6.3, 6.4, 6.12, 6.32, 6.34 (a)(i), 36.13 (a)). Auch das Programm für die weitere Umsetzung der Agenda 21 [Programme for the Further Implementation of Agenda 21], das auf dem Welterdgipfel +5 [Earth Summit +5] erarbeitet wurde, lässt Religion völlig außer Acht, und im Entwurf des Durchführungsplans für den Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung [Draft Plan of Implementation for the World Summit on Sustainable Development], der bei der Sitzung des Vierten Vorbereitungsausschusses (27. Mai bis 7. Juni 2002) verhandelt wurde, wird Religion nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar wenn es darum geht sicherzustellen, dass die Bereitstellung grundlegender Gesundheitsdienste „in Übereinstimmung mit ... kulturellen und religiösen Werten“ erfolgt (A/CONF199/PC/L.5, #45). Die Tatsache, dass die zerstörerischen Auswirkungen von religiösem Fanatismus auf nachhaltige Entwicklung in den aus dem Erdgipfel, dem Erdgipfel +5 und dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung hervorgegangenen weltweiten Aktionsplänen nicht erwähnt werden, ist um so erstaunlicher, als bei einigen Konferenzen in den 90er Jahren zumindest Sorge hinsichtlich religiöser Intoleranz zum Ausdruck gebracht wurde.
4. Bei ihren Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus zögern die Vereinten Nationen, religiösen Fanatismus anzusprechen. Sie haben mit einer Reihe von Resolutionen, Verträgen und Maßnahmen versucht, konzertierte internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Terrorismus zu erreichen und diesen als „eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im einundzwanzigsten Jahrhundert“ dargestellt sowie als abträglich für „weltweite Stabilität und Wohlfahrt“ (S/RES/1377 (2001). Aber gleichzeitig sind die Vereinten Nationen zurückhaltend, wenn es darum geht, religiösen Fanatismus als Quelle des Terrorismus auszumachen und sprechen ihn, wenn überhaupt, meist indirekt an – etwa als „terroristische Handlungen, die durch Intoleranz oder Extremismus motiviert sind“ (S/RES/1373 (2001). An den wenigen Stellen, an denen dieser direkt erwähnt wird, ist er in eine Liste verschiedener Rechtfertigungen eingebettet – „kriminelle Handlungen, die darauf zielen, Terror hervorzurufen, ... sind ... unter keinen Umständen zu rechtfertigen, gleichviel welche politischen, philosophischen, weltanschaulichen, ideologischen, rassistischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Erwägungen zu ihrer Rechtfertigung geltend gemacht werden.“ (A/RES/55/158, Abs. 2; siehe auch A/57/37, Anhang III, Artikel 5, Bericht des Ad-hoc-Ausschusses [der mit der Ausarbeitung eines Umfassenden Übereinkommens über den internationalen Terrorismus {Comprehensive Convention on International Terrorism} beauftragt war], der gemäß Resolution 51/210 der Generalversammlung vom 17. Dezember 1996 gebildet wurde, und Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus [International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism], Artikel 6). Interessanterweise schaffen es nicht einmal die verschiedenen Resolutionen, die vom Sicherheitsrat, der Generalversammlung und der Menschenrechtskommission als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 verfasst wurden, religiösen Fanatismus als die Triebkraft zu benennen, die zu diesen Anschlägen animiert hat (um Anspielungen auf diese fanatische Motivation zu finden, muss man auf die Reden des UNO-Generalsekretärs schauen: „Wir befinden uns in einem moralischen Kampf zur Bekämpfung eines Übels, das ein Fluch für einen jeden Glauben ist.“ SG/SM8013, Botschaft des Generalsekretärs Kofi Annan an die Warschauer Konferenz zur Bekämpfung des Terrorismus, 6. November 2001). Dieses Zögern, die religiöse Bigotterie als Antrieb für terroristische Handlungen zu benennen und energisch zu verurteilen, schwächt die Wirkung der Bemühungen seitens der Vereinten Nationen, dem internationalen Terrorismus ein Ende zu bereiten. Denn derartige Handlungen können nur dann wirksam bekämpft werden, wenn man die besondere Motivation, die dahinter steckt, erkennt und versteht.
5. ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 361.
6. Ibid.
7. Religion hat in ganzen Bevölkerungen die Fähigkeit erweckt zu lieben, zu vergeben, zu schaffen, Großes zu wagen, Vorurteile zu überwinden, für das Gemeinwohl Opfer zu erbringen und Impulse der tierischen Natur unter Kontrolle zu halten. Sie gibt — entgegen allen Erwartungen und unter ungünstigen Voraussetzungen — noch immer Millionen von Menschen Kraft im täglichen Überlebenskampf; auf der ganzen Erde bringt sie Helden und Heilige hervor, die glaubwürdig und überzeugend jene Prinzipien vorleben, die in den Schriften des jeweiligen Glaubens niedergelegt sind. Tatsächlich haben, über die Jahrhunderte hinweg, ihre grundlegenden Gesetze und zentralen Prinzipien Kette und Schuss im Gefüge sozialer Beziehungen gebildet – und dadurch Völker zu Gemeinschaften vereint – und als oberste Autorität fungiert, wenn es darum geht, dem persönlichen und kollektiven Leben Sinn und Richtung zu verleihen.
8. Die Vorstellung ist nicht aufrecht zu erhalten, dass ein internationales Menschenrechtssystem die Rolle der Religion als derjenigen Kraft ersetzen könnte, die hochgradige Opferbereitschaft wecken und die weitreichenden Veränderungen bewirken kann, die für die Vereinigung und Befriedung der Menschheit notwendig sind. Wenn es auch zutrifft, dass die internationalen Menschenrechtsnormen und -standards weitgehend auf Grundsätzen basieren, die ihren Ursprung in den großen Weltreligionen haben, so kann doch ein solches, auf sich allein gestelltes – vom religiösen Ziel isoliertes – System nicht die moralische Kraft und Hingabe, die zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines universellen Friedens und universeller Gerechtigkeit erforderlich sind, hervorbringen. Tatsächlich werden Menschenrechte und grundlegende Freiheiten, losgelöst von den in allen Religionen gelehrten Tugenden – wie Freundlichkeit, Vergebung, Mitgefühl, Großherzigkeit, Liebe, Opfer, Verantwortung und Dienst am Nächsten – oft benutzt, um selbstsüchtigen Individualismus, antisoziale Lebensweisen, übermäßigen Konsum, ethischen Relativismus, kulturelle Überhöhung und nationalistischen Chauvinismus zu rechtfertigen.
9. ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 181. Dieser Grundsatz wird in den Bahá’í-Schriften immer wieder betont – z.B.: „Wenn sich die Religion als Quelle des Hasses, der Feindseligkeit und des Streits erweist, wenn sie zur Ursache von Krieg und Zwietracht wird und Menschen so beeinflusst, dass sie einander töten, wäre es vorzuziehen, dass es sie nicht gäbe.“( (ibid., S. 298); „Wenn eine Religion zur Ursache von Hass und Zwietracht wird, wäre es besser, wenn es sie nicht gäbe. Es wäre besser, ohne eine solche Religion zu sein.“( (‘Abdu’l-Bahá, ‘Abdu’l-Bahá in London, Bahá’í Publishing Trust, Oakham, England, 1982, S. 28); „Wenn die Religion zur Ursache von Abneigung, Haß und Spaltung wird, so wäre es besser, ohne sie zu sein, und sich von einer solchen Religion zurückzuziehen wäre ein wahrhaft religiöser Schritt.“ (‘Abdu’l-Bahá, Ansprachen in Paris; sechste Auflage, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1973, S. 76).
10. Wenn auch religiöse Prinzipien einen spürbaren Einfluss auf die Vereinten Nationen ausgeübt haben, besonders auf dem Gebiet der Menschenrechte, so müssen die Vereinten Nationen aber die Weltreligionen bei ihrer Arbeit erst noch als wirkliche Partner annehmen. Man kann wohl kaum sagen, dass die Einbindung religiöser Nichtregierungs-organisationen (NGO) in bestimmte Tätigkeitsbereiche der Vereinten Nationen, die religiösen Empfindungen, welche die Amtsträger der UNO sowie Regierungsbeamte bei ihren Verhandlungen gelegentlich zum Ausdruck bringen, der Status eines Ständigen Beobachters, den der Heilige Stuhl (der den Vatikan-Staat vertritt) innehat, und andere derartige Kanäle, über welche die Stimmen der Religion mitunter in der UNO erhoben werden, eine substanzielle Einbindung der Religion in die Beratungen und in die konzeptionelle Arbeit der UNO darstellen. Diese mangelnde Einbindung ist erstaunlich in Anbetracht dessen, dass die Schriften der Weltreligionen ein Zeitalter universellen Friedens und weltweiter Harmonie verheißen – ein Zeitalter, dessen Errichtung der zentrale Zweck der Vereinten Nationen ist.
11. Für eine interessante Sicht auf den Einfluss religiöser NGO bei den Vereinten Nationen siehe Religion and Public Policy at the UN, Religion Counts, 2002.
12. Initiativen wie der World Faiths Development Dialogue (eine gemeinschaftliche Initiative von Weltbank und einigen Weltreligionen) und der Millennium World Peace Summit of Religious and Spiritual Leaders (eine weltweite Zusammenkunft religiöser Oberhäupter, die zwar zum Teil im Sitzungssaal der UN-Generalversammlung stattfand und in die UN-Amtsträger eingebunden waren, die aber nicht offiziell von den Vereinten Nationen getragen wurde) könnten als erste Schritte dahingehend angesehen werden, dass Religion direkt in die Arbeit der Vereinten Nationen mit eingebunden wird. Die Vereinten Nationen sollten auf diese ersten Schritte aufbauen, um Mechanismen und Verfahren zu entwickeln, die auf sinnvolle Art und Weise religiöse Werte, Zielsetzungen und Visionen in das Herz dieses weltumfassenden Unternehmens, das die Vereinten Nationen darstellen, tragen.
13. Die religiösen Oberhäupter werden Wissenschaft und Religion als die beiden unentbehrlichen Wissenssysteme annehmen müssen, deren Zusammenarbeit unabdingbar ist, wenn die Menschheit Fortschritte erzielen soll. Gleichzeitig müssen diejenigen, welche die Relevanz der Religion bei der Bewältigung der scheinbar unlösbaren Probleme der Menschheit abstreiten, unvoreingenommen auf die Einsichten und die Führung der Religion schauen, um eine angemessene Anwendung der durch wissenschaftliche Forschung gewonnenen Erkenntnisse und Fertigkeiten sicherzustellen. Ein grundlegendes Prinzip der Bahá’í-Religion ist das der Harmonie von Wissenschaft und Religion: „Gott hat den Menschen mit Intelligenz und Vernunft ausgestattet, womit er die Richtigkeit von Fragen und Thesen bestimmen muss. Wenn religiöse Glaubenssätze und Meinungen sich als im Gegensatz zu den Maßstäben der Wissenschaft stehend erweisen, sind sie reiner Aberglaube und Einbildung; denn der Gegensatz von Wissen ist Unwissenheit, und Aberglaube ist das Kind der Unwissenheit. Es muss zweifellos Übereinstimmung zwischen wahrer Religion und Wissenschaft bestehen. Wenn eine Frage sich als der Vernunft widersprechend herausstellt, ist der Glaube daran unmöglich, und es gibt kein Ergebnis außer Unsicherheit und Unschlüssigkeit.“( ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 181).
14. Die Förderung von Gewissensfreiheit schließt ein, dass man es allen Menschen erlaubt, die Wirklichkeit zu erforschen, andere Religionen zu studieren und Wert zu schätzen und ihre Religion zu wechseln, wenn sie das wünschen. Die Bahá’í-Schriften betonen, dass Gewalt und Zwang in Angelegenheiten der Religion und des Glaubens Verletzungen des Göttlichen Gebotes darstellen: „Das Gewissen des Menschen [ist] heilig und unantastbar“ (‘Abdu’l-Bahá, Auf den Pfaden der Gottesliebe, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1997, S. 60). Wesentliches Kennzeichen dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, ist für jeden Einzelnen, die Wirklichkeit selbst zu untersuchen, seine Religion frei zu wählen und Gott auf die Art und Weise anzubeten, wie er es für richtig hält.
15. Die Überwindung solcher Dogmen setzt die Anerkennung dessen voraus, dass alle großen Weltreligionen in ihrem Wesen und Ursprung gleich wahr und Teile desselben göttlichen, fortschreitenden, Kultur schaffenden Prozesses sind, der die Fähigkeit der Menschheit verfeinert zu wissen, zu lieben und zu dienen. Bahá’u’lláh sagt: „Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan.“ (Ährenlese, 3. revidierte Auflage, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1980, 111:1.) Die Zukunft der Zivilisation beruht letztlich auf Annahme oder Ablehnung eines solchen Verständnisses vom Wesen und Ursprung der großen Weltreligionen.
16. Weitere Bemühungen könnten das Verfassen und die Ratifizierung internationaler Übereinkommen über Erziehung und über Medien sein. Aufbauend auf dem Übereinkommen gegen Diskriminierung in der Erziehung [Convention Against Discrimination in Education] sollten diese Übereinkommen rückhaltlos jene verurteilen und entschlossen mit Sanktionen belegen, die im Namen der Religion Erziehung und die Medien benutzen, um Gewissensfreiheit zu unterdrücken und Entfremdung, Hass, Terrorismus, Gewalt und Blutvergießen zu unterstützen. Bildungseinrichtungen und -initiativen oder Medien-Praktiken und -Programme – ob staatlich oder privat –, die solche Haltungen und Verhaltensweisen fördern, dürfen nicht toleriert werden.
17. Die Annahme, dass die Vielfalt der Religionen die Möglichkeit eines wirkungsvollen religiösen Engagements bei den Vereinten Nationen ausschließt, muss hinterfragt werden. Die Weltreligionen haben viele gemeinsame geistige Wahrheiten und kommen zunehmend auf allen Ebenen zusammen, um gemeinsame Werte und Ziele zu erforschen, um für die Umsetzung staatlicher Vorkehrungen und Programme zu arbeiten und um eine ganze Reihe von Initiativen umzusetzen. In der Tat lässt die gemeinsame Vision einer friedlichen Zukunft, die von allen großen Weltreligionen hochgehalten wird, enorme Hingabe, Energie und Ressourcen erkennen, die eine Einbindung der Religion in die Vereinten Nationen für diese Organisation beim Ausüben ihres globalen Mandates mit sich bringen könnte.
18. Die zunehmende Gefahr eines religiös heraufbeschworenen globalen Flächenbrandes macht nur zu deutlich, wie notwendig es ist, beschleunigt die Religionen in die Arbeit der Vereinten Nationen einzubinden. Eine solche Gefahr kann ziviles Regierungshandeln jedoch ohne Unterstützung nicht bannen. Auch sollte man sich nicht einbilden, dass allein durch Appelle zu gegenseitiger Toleranz Feindseligkeiten beendet werden können, die beanspruchen, göttlich sanktioniert zu sein. Diese Situation erfordert von den Amtsträgern der Religionen einen ebenso entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit, wie er bei der Überwindung der gleichermaßen zerstörerischen Vorurteile der Rasse, des Geschlechts oder der Nation in der Gesellschaft vollzogen wurde. Wenn Einflussnahme auf Gewissensfragen überhaupt gerechtfertigt ist, dann nur, um dem Wohlergehen der Menschheit zu dienen. An diesem größten Wendepunkt in der Geschichte der zivilisierten Menschheit könnte nicht klarer sein, was solcher Dienst verlangt.
* BIC Dokument-Nr. 02-0826: Religion and Development at the Crossroads Convergence or Divergence
** Bahá'í International Community – BIC
( Vorläufige Übersetzung für diese Veröffentlichung
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