Lesen: Ruhiyyih Khanum, Entwicklung der Gemeinde


Die Entwicklung der Gemeinde zu einer Einheit von Ruhíyyih Khanum

Jemand fragte Shoghi Effendi: “Was ist für einen Bahá’í der Sinn des Lebens? “
Bevor der Hüter seine Antwort für mich wiederholte (ich war während des Besu-
ches nicht anwesend), fragte ich mich tatsächlich im stillen, was er wohl gesagt
haben mochte. Hatte er dem Besucher gesagt, daß der Sinn des Lebens für uns
sei, Gott zu erkennen oder unseren Charakter zu vervollkommnen? Ich hätte nicht
im Traum an die Antwort gedacht, die er wie folgt gegeben hatte:

Der Sinn des Lebens ist für einen Bahá’í, die Einheit der Menschheit voranzu-
treiben. Der gesamte Sinn unseres Lebens ist eng verknüpft mit dem Leben aller
menschlichen Geschöpfe: Wir suchen kein persönliches, sondern ein universelles
Seelenheil. Wir dürfen nicht in uns selbst blicken und sagen: “Nun beeile dich, um
deine Seele zu retten und einen bequemen Platz in der nächsten Welt zu reservie-
ren!” Nein, wir müssen beginnen, das Himmelreich diesem Planeten zu bringen.
Das ist ein sehr umfangreiches Vorhaben. Der Hüter erklärte dann weiter, daß es
unser Ziel sei, eine Weltzivilisation zu schaffen, die wiederum den Charakter des
Einzelnen beeinflussen wird. Dies ist in gewisser Weise die Umkehrung des Chris-
tentums, das mit der persönlichen Einheit begann und sich über diese auf das viel-
fältige Leben der Menschen ausbreitete.

Das heißt nicht, daß wir das Abschleifen unserer Persönlichkeit und das Ausmer-
zen unserer Fehler und Schwächen vernachlässigen dürfen. Es heißt vielmehr, daß
wir eine Menge von dem, was wir durch das Studium der Lehren Bahá'u'lláhs als
wahr erkannt haben, anderen gegenüber ausstrahlen müssen. Es bedeutet - wie
mir scheint - auch, daß unsere “Verwaltungsordnung”, unsere Geistigen Räte, Aus-
schüsse, Neunzehntagefeste und Konferenzen ein naheliegendes und herausfor-
derndes Versuchsgelände für uns darstellen. Wenn wir nicht lernen können und
wollen, mit unseren Mitgläubigen in unserem Bahá’í-Gemeindeleben so wie wir
sollten zusammen zu arbeiten, dann können wir kaum erwarten, daß die Welt auf
uns hören oder unserem Beispiel folgen wird. Wir neigen dazu, unsere Administra-
tion für eine Reihe von Verfahrensweisen, einen Weg der Handhabung von Bahá’í-
Angelegenheiten zu halten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir nicht die Er-
gebnisse erzielen, von denen wir wissen, daß wir sie erhalten sollten. Sie ist kein
Bündel Regelungen, sie ist der Nährboden der Einheit, eine Gußform gemein-
schaftlichen Lebens. Jede einzelne Sache, die wir als Teil des Bahá’í-Seins begrei-
fen, wie Liebe, Gerechtigkeit, Fehlen von Vorurteilen, Ehrlichkeit, Aufgeschlossen-
heit, Verständnis usw. sollte ihren lebendigen Ausdruck in unserer Art finden, wie
wir als eine Gruppe unsere Angelegenheiten erledigen. Wenn wir die Einheit in
unserem Rat haben, werden wir sie sehr wahrscheinlich in unserer Gemeinde e-
benso haben oder erreichen können. Wenn wir einmal so weit gekommen sind,
werden die Menschen beginnen, in Scharen Bahá’í zu werden. Warum sollten sie
auch nicht? Sucht die Welt etwas anderes als eine Sache, die die Menschen tat-
sächlich in die Lage versetzt, harmonisch zusammenzuleben und zu arbeiten? So-
lange wir dies selbst nicht können - wie können wir von irgend jemand anderem
wirklich ernsthaftes Interesse für unsere Ideen erwarten?
‘Abdu’l-Bahá wird zugeschrieben, gesagt zu haben, daß das Geheimnis der
Selbstbeherrschung das Selbstvergessen sei. Wenn etwas in unserer administrati-
ven Arbeit falsch ist, dann dies, daß wir uns einfach nicht vergessen. Unser eige-
nes kleines oder, je nachdem, großes Ego geht ohne weiteres mit uns in unsere
GR-Sitzungen oder ein anderes Treffen. Dort sitzen wir mit unserem Überlegen-
heits- oder Minderwertigkeitskomplex oder eben unserem normalen, gesunden Ich
und warten darauf, unsere Ansichten anderen aufzudrängen oder uns über Beleidi-
gungen, die wir uns einbilden, aufzuregen oder nur, um unbewußt Zeit für uns in
Anspruch zu nehmen oder wir sind zu müde, um uns anzustrengen, unseren
pflichtgemäßen Teil beizutragen. Ich hoffe, dies in aller Demut und mit tiefem Mit-
gefühl für alle meine Mitgläubigen sagen zu dürfen, da ich selbst in vielen Aus-
schüssen und einem Rat mitgearbeitet habe und erschreckt und belustigt zugleich
auf meine vergangenen Einstellungen und Torheiten zurückblicke. Ich kann mich
daran erinnern, wie höchst wichtig mein Standpunkt für mich war, wie beleidigt oder
bedrückt ich wurde, wenn dieser nicht wenigstens mit großer Achtung geprüft wur-
de, und wie ich manchmal glaubte, nur ich wäre ein gefestigter Bahá’í unter all den
Anwesenden, die dabei waren, die Sache mit einer Mehrheitsentscheidung, der ich
nicht beipflichtete, zu zerstören. Wir müssen nicht nur mit anderen, sondern auch
mit uns selbst geduldig sein. Wir müssen uns aber auch intensiver darum bemü-
hen, dort, wo es am wichtigsten ist, Bahá’í zu sein: in unserem gemeinsamen Ba-
há’í-Leben.
Nichts auf der Welt ist einfacher, als anderen zu sagen, was sie tun sollen! Doch
wenn wir versuchen, uns selbst zu sagen, was wir tun sollten und uns selbst zum
Handeln zu bringen, kommen wir in Bedrängnis! Sogar wir Bahá’ís haben teil an
dieser allgemeinsten aller menschlichen Schwächen. Wir sind geneigt, unsere
Aufmerksamkeit auf die Fehler unserer Mitgläubigen zu richten und zu glauben,
daß wenn sie (oder er) nicht so ein Hindernis wäre, die Angelegenheiten unserer
Gruppe, unseres Rates oder unserer Gemeinde reibungsloser erledigt würden.
Natürlich gibt es wahrscheinlich eine Rechtfertigung für unsere Kritik. Aber Kritik
bringt die Dinge nicht weit voran, im Gegenteil, wahrscheinlich lenkt sie fortwäh-
rend unsere Aufmerksamkeit von wichtigeren Aufgaben ab. Gleichzeitig ist einer
unserer eigenen Fehler sicherlich eine Prüfung und im selben Maße für andere ein
Hindernis, wie einer ihrer Fehler es für uns ist. Der beste Weg, unsere Schwäche
zu überwinden, ist, wie mir scheint, ein zweifacher: einmal zu versuchen, sich wei-
ter zu entwickeln, denn wenn man besser ist, bewirkt dies, daß die Gesamtsumme
der Gemeinde auch um diesen Betrag verbessert wird, und zum anderen unsere
Kräfte darauf zu konzentrieren, wirklich gemäß der Administration zu arbeiten, die
eine lebende, dynamische Sache und keine Sammlung von Geboten und Verboten
ist. Die Bahá’í, durch das Feuer einer lebendigen, religiösen Überzeugung belebt,
sind größtenteils gewissenhaft im Befolgen der Gesetze und Prinzipien ihres Glau-
bens. Sie sind stolz auf seine Lehren, sie lieben sie wirklich und versuchen aufrich-
tig, ihnen gemäß zu leben. Die Opfer (denn in den Augen der kompliziert oder welt-
lich Denkenden erscheinen sie als solche), die sie bringen, wie z.B. nicht zu trin-
ken, obwohl es die allgemeinste Gewohnheit dieses Zeitalters ist, ein keusches und
edles Leben zu führen in einer Gesellschaft, die größtenteils glaubt, jede Be-
schränkung des Sinnenlebens sei unnötig und ungesund, Mißbilligung und sogar
Ächtung lieber auf sich zu nehmen, als gegen die Ansicht zu verstoßen, daß alle
Farben und Klassen mit absoluter Gleichheit behandelt und mit ihnen frei und lie-
bevoll Umgang gepflegt werden muß - all dies nehmen sie freudig als ein Mittel auf
sich, die Wahrhaftigkeit ihres Glaubens unter Beweis zu stellen.

Es besteht kein Zweifel, daß die Gläubigen unter denen, die mit ihnen Umgang
pflegen, einen guten Ruf haben wegen ihres Charakters und ihrer Rechtschaffen-
heit. Aber aus irgendwelchen Gründen scheinen sich all unsere kleinen Schwächen
bei der Arbeit in der Administration zu zeigen, vielleicht, weil sie der Prüfstein ist,
den Bahá’u’lláh für die Krankheiten der Welt eingesetzt hat. Ich habe darüber sehr
viel nachgedacht und mich gefragt, warum es wohl so ist: was mein Denkergebnis
wert ist, mögen andere beurteilen. Es kann nicht die ganze Antwort sein, aber viel-
leicht wird es ein wenig helfen, die richtige Antwort zu finden.
Wir haben die Neigung, geistige Gesetze beiseite zu schieben, wenn wir uns mit
administrativen Problemen beschäftigen. Wenn man überlegt, ist gerade dies das
genaue Gegenteil des gesamten Konzepts der Bahá’í-Regierungsform. Bahá’u’lláh,
der “Vater”, ist gekommen, um das Himmelreich auf Erden zu errichten. Wenn wir
daran wirklich glauben (und das tun wir natürlich), dann müssen wir es analysieren.
Es beinhaltet eine nach Gesetzen, und zwar geistigen Gesetzen ablaufende Welt.
Es beinhaltet Ordnung, Disziplin und Organisation, aber aufgebaut auf den Prinzi-
pien von Gottes nicht irrendem Propheten und nicht konstruiert vom kleinen, eigen-
nützigen Verstand der Menschen. Daraus folgt, daß die Stelle, an der ein Bahá’í
seine größte Tätigkeit entfalten und im höchsten Grade seiner Fähigkeiten den
Lehren entsprechend leben sollte, jedwede Zusammenkunft im Rahmen der Admi-
nistrativen Ordnung ist. Und doch sieht man so oft, wie ein sehr netter Bahá’í einen
Großteil, wenn nicht seine gesamte geistige Gesinnung beiseite schiebt, sobald er
zu einer Ratssitzung, einem Ausschuß oder einer Konferenz kommt, und zu einem
Geschäftsmann, einem ,reinen Beamten oder sogar etwas, das so leicht einem
Politiker ähnelt, wird! Wir haben den Hauptkanal zugestopft ... und wurden wie die
anderen Mitglieder aller anderen Ratsversammlungen der Welt, die durch ver-
schiedenartige Absichten, Persönlichkeitsprobleme, individuelle Angriffslust usw.
nicht weiter wissen. Ich frage mich, weshalb? Weil wir glauben, kompetent zu sein,
alle weltlichen Angelegenheiten gemäß unserer eigenen “Erleuchtung” erledigen zu
können? Was auch immer der Grund sein mag - hier liegt die Ursache, die unsere
Bahá’í-Gemeinde davon abhält, breite Massen zur Sache zu führen, denn diese
Ursache hält uns davon zurück, die Liebe und Einheit, nach der sich die ganze
menschliche Rasse sehnt, unter einer großen Masse von Menschen zu erzeugen.
Wir denken zu sehr an unsere eigenen Fähigkeiten und insgesamt zu wenig an
das, was die Kraft Gottes durch jede noch so unbedeutende kleine Seele, die sich
öffnet, leisten kann. Das größte lebendige Beispiel, an dem ich gesehen habe, was
jemand, der sich der Kraft Gottes anvertraut hat, leisten kann, war Martha Root.
Nicht, daß sie unbedeutend war - das war sie nicht, sie war eine begabte und intel-
ligente Frau. Aber was sie leistete, war unendlich weit jenseits ihrer eigenen Kräfte.
Und sie wußte es. Sie pflegte zu sagen: “Bahá’u’lláh vollbringt es!”

aus Alaska Baha'i News, May 1974
(aus BN 131/74)



Entwicklung der Gemeinde zu einer Einheit von Ruhíyyih Khanum aus BN 131/74



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