Lesen: Townhend, Christus und die Kette der Offenbarungen


George Townshend

Christus und die Kette der Offenbarungen

Die Majestät Christi, Sein überragender Anspruch und die Beweise Seiner Macht im Laufe der Jahrhunderte blendeten die Vorstellungskraft der christlichen Öffentlichkeit, und allmählich bildete sich eine Auffassung von Seiner Stufe in der Religionsgeschichte, die für die längst vergangenen Zeiten der
Unwissenheit genügt haben mochte, in der Moderne jedoch nicht haltbar ist. Denkende Menschen wissen, dass diese Auffassung irrig ist, aber sie haben noch keine Alternative gefunden, die der Erhabenheit Christi nicht Abbruch täte und mit Seinem Anspruch vereinbar wäre.

Ganz allgemein ausgedrückt, glaubte und glaubt die Gemeinde der Christen nicht an einen fortdauernden, weltumspannenden Offenbarungsplan Gottes, in welchem Jesus Christus eine Rolle spielt. Das Vorhandensein eines solchen göttlichen Planes dürfte in der Vergangenheit abgelehnt worden sein; vielleicht wäre schon die Vorstellung als solche für viele ohne Wert oder Bedeutung gewesen.

Auch glaubt die christliche Gemeinde nicht, dass die Bibel ein fortschreitendes System der Offenbarung lehrt, das mit der Erschaffung des Menschen begann und die Menschenrasse ständig weiterführt, bis sie die geistige Reife erlangen wird. Sie glaubt auch nicht an das allmähliche geistige Wachstum
der ganzen Menschheit im Verlauf der Geschichtsepochen, ein Wachstum, das durch eine Aufeinanderfolge göttlicher Gesandter gefördert wird.

Zweifellos mit dem Gedanken, die Stellung Christi zu erhöhen, und sicherlich mit der Auswirkung, dass ihre eigene Meinung erhöht wurde, hat es die christliche Gemeinde zugelassen, dass Jesus von Nazareth alle anderen göttlichen Lehrer völlig ins Dunkel abdrängt; sie hat Seine geistigen Lehren als
erschöpfend und endgültig angesehen und Ihm eine persönliche Unsterblichkeit von solcher Körperlichkeit zugeschrieben, wie sie die alten Heiden einem ihrer Götter, etwa Apollo, zugeschrieben haben mochten.

Auffassungen wie diese, auch wenn sie in den förmlichen Glaubensbekenntnissen des Christentums tatsächlich nicht enthalten sein mögen, sind durch Tradition überkommen und gang und gäbe; in vielen der bedeutendsten christlichen Schriften sind sie entweder angedeutet oder offen ausgedrückt.

Aber die Saat dieser Auffassungen wurde von Männern gesät, die in weniger aufgeklärten Zeiten als der unseren lebten, und zur Blüte kamen sie im Frühmittelalter. Sie wurden nicht von Christus gelehrt. Heute sind sie schwer mit der anerkannten Wahrheit zu vereinbaren. Sie tragen nichts zur Erhabenheit
der Stufe Christi bei, scheinen vielmehr Gottes, des Allmächtigen, in Seinem Wesen unwürdig zu sein.

Diese Vorstellungen entsprechen den Ansichten, die die Juden zu Jesu Zeiten über Moses hatten; denn auch die Schriftgelehrten verkündeten, dass die Offenbarung Moses vollständig und endgültig sei, dass darin keine Entwicklung stattfinde oder nötig sei und dass ein formales Bekenntnis zum Mosaismus
hinreiche, einen Menschen über die ganze übrige Menschheit hinauszuheben. Weil sie Moses in diesem Sinn aufnahmen, verwarfen sie Jesus. Die mosaische Religion, so dachten sie, sei genug, sei endgültig; warum sollten sie da auf eine neue Lehre hören? Diese Engstirnigkeit, diesen Mangel an geistiger Aufgeschlossenheit, verdammen wir an den Pharisäern und Schriftgelehrten als eine abscheuliche Sünde; es war das, was sie zu dem entsetzlichen Verbrechen führte, Jesus am Kreuz zu töten. Und wenn die Geschichte ihres Irrtums zum Studium für uns aufgezeichnet ist, dann enthält sie die Warnung, in Dingen des Glauben nicht dünkelhaft und fortschrittsfeindlich zu sein.

Für uns bringt eine engstirnige Vorstellung vom Offenbarungsgeschehen größere Schwierigkeiten mit sich als für die Schriftgelehrten von damals, und wir haben noch weniger eine Entschuldigung dafür als jene. Denn was wussten jene im Vergleich zu uns über die unermessliche Ausdehnung des Erdballs
mit allen seinen Ländern und Meeren, über die Vielzahl und Vielfalt der Völker, die ihn bewohnen, über die Kulturen und Religionen, welche sich in dem weiten Erdteil Asien, wo sie wohnten, entfaltet hatten, welche dort aufgeblüht und vielleicht schon wieder untergegangen waren? Was wussten sie über das Alter der Erde und der Menschheit? Welchen Begriff hatten sie von solchen Wahrheiten wie Fortschritt und Entwicklung?

Unser ausgedehnteres Wissen hat uns eine größere Verantwortung auferlegt. Wir, die wir Universalgeschichten zusammenstellen, vergleichende Religionswissenschaft studieren, einen viel breiteren und genaueren Überblick über die alte Welt gewonnen haben als es jenen möglich gewesen wäre, die
selbst darin lebten — wir, die wir solche Vorrechte genießen, haben überhaupt keine Entschuldigung für Vorurteile oder Egoismen in unserer Darstellung Christi und Seiner Sendung.

Das Dogma, die Ansicht, es gebe kein einheitliches göttliches Gesetz, das die menschlichen Angelegenheiten beständig regiert, sei es vor oder nach Christus, die Barmherzigkeit und die erlösende Liebe es himmlischen Vaters sei auf irgendeine unerklärliche Weise und aus keinerlei vorstellbarem Grund jahrtausendelang vor allen Seinen Kindern verschlossen gewesen, die große Masse der Menschen sei diese ganzen Zeitalter hindurch sozusagen einer äußeren Kälte und Finsternis ausgeliefert gewesen, auf sich selbst angewiesen, ohne göttliche Führung, blindlings dem Wechsel und Wandel einer verwaisten, führerlosen Welt ausgeliefert die Nationen und Einzelmenschen seien ziellose Wege gegangen, ohne dass ihr Gewissen fortgebildet worden wäre, ohne die Inspiration und den Trost, die die Religion verleiht, ohne Zugang zur Erkenntnis geistiger Wahrheit — jedes derartige Dogma, jede so gestaltete Ansicht erscheint uns seltsam und in gewissem Grade willkürlich, als offensichtliche Erfindung einer grausamen, ungebildeten menschlichen Vorstellungsgabe. In den Lehren Christi gibt es kein
einziges Wort als Beleg dafür; es ist völlig unvereinbar mit Seinen Lehren. Es ist reinster Aberglaube. Es ist in der Tat schlimmer als nur unhaltbar und absurd: Es ist unzweifelhafte Gotteslästerung, eine Schmach für das Wesen und die Macht Gottes. Was außer boshaften menschlichen Gedanken könnte auf die Idee verfallen, ein Gott der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, des Beistands und der Hilfsbereitschaft, Schöpfer alles Liebenswerten und Guten, würde das Menschengeschlecht erschaffen, um es dann unbehütet sich selbst zu überlassen, ohne den Trost Seines Wortes oder das Licht und die Wärme Seiner Gegenwart, ungezählte Zeitalter hindurch, bis dann schließlich das Jahr anbräche, das
wir im Westen als das Jahr eins bezeichnen?

Wenn behauptet wird, Er habe dies tatsächlich getan und Seine Milde und Vergebung gezeigt, indem Er im Jahr eins diese Tore geöffnet habe, dann erhebt sich noch die besondere Frage: Warum gerade in diesem Jahr? Welches unterscheidende Merkmal trägt jene Epoche, dass alle anderen Zeitalter von
der einen und einzigen Absicht Gottes, die Menschheit zu erleuchten und zu retten, ausgeschlossen wären? Schon vor jener Epoche erhoben sich große Heilige, blühten mächtige Kulturen auf und ließen in der Erinnerung und im Bewusstsein der Menschheit dauerhafte Prägungen zurück. Und seit jener Zeit brachte der Islam seine wundervolle Mystik und eine strahlende Kultur hervor.

Ein kostbarer Heilsplan

Welche verständliche oder stichhaltige Geschichtsphilosophie läßt sich auf der Vorstellung aufbauen, die einzige authentische Offenbarung Gottes sei vor neunzehnhundert Jahren gegeben worden und sei sowohl endgültig als auch vollständig? Keine. Diese Vorstellung stammt aus den Tagen der Unwis-
senheit und trägt alle Zeichen ihrer Geburtsstunde. Sie widerspricht den Lehren Christi und dem Geist der Bibel; sie ist unvereinbar mit dem geoffenbarten Wesen Gottes und widerstrebt dem gereiftem Gefühl und dem erweiterten Wissen unserer Zeit.

Auch wenn die Deutung der Bibel als Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit nicht die Wirklichkeit der Erlösung hervortreten ließe, auch wenn sie nicht die Majestät Christi steigerte und unsere Auffassung von der Herrlichkeit des Schöpfers erhöhte, müssten wir diese Deutung dennoch annehmen, weil sie unmittelbar durch das Wort der Bibel bewiesen wird. Aber warum sollte irgend je-
mand abgeneigt sein oder zögern, sie anzunehmen, wo sie doch zum größeren Ruhme Gottes, Seiner Boten und aller Seiner Werke gereicht? Wie kostbar inmitten einer Welt des Zweifels wie der unseren ist das Bild eines Heilsplans, der verständlich fassbar ist, mit unserem übrigen Denken übereinstimmt
und uns zeigt, wie gegenständlich, wie schwerwiegend, wie kostspielig und gefährlich Unvollkommenheiten und Sünden sind, die die Menschen in ihrer Unwissenheit schon so lange als unwesentlich abgetan haben!

Wie groß, wie weit über die Vorstellungskraft irgendeines Menschenalters hinausragend ist dieser Heilsplan, den Christus entfaltet! Wie wunderbar sind die Liebe und die Weisheit, die diesen Plan empfangen und anordnen konnten! Wie unvorstellbar die Macht, die da befiehlt und erschafft, die jeden Teil dieses unermeßlichen Ablaufs von Ewigkeit zu Ewigkeit erfüllt und diesen Plan in seiner ganzen Dauer vollzieht, einer Zielsetzung folgend, die vor dem Urbeginn der Welt bestimmt war! Wie hoch über allem, was wir je an Herrlichkeit erkennen können, ist Einer, der der Sohn eines so großen Gottes genannt ist, das Ebenbild Seiner Vollkommenheiten, der Vollzieher Seiner Macht über alle Dinge im
Himmel und auf Erden!

Jesus war nicht berufen, den ganzen Entwurf des Erlösungsplanes Gottes zu zeichnen oder ihn in den Einzelheiten darzustellen, (wie es zum Beispiel im "Buch der Gewißheit"' geschieht). Die Schau, die Er uns bietet, lässt sich mit unserem Blick auf den zunehmenden Mond im Frühstadium vergleichen:
Der Teil der Mondkugel, die dem christlichen Evangelium entspricht, offenbart sich in vollem Licht; der Rest zeigt sich im Umriss durch einen blassen Kranz zarten Lichtes, so dass das Auge die Größe und den Umfang des Mondes abschätzen kann, aber nichts weiter.

Christus sprach zu einem kindlichen Volk; Er hatte keine Gelegenheit, eine Philosophie des Gesamtplans Gottes auszubreiten. Zweifellos war dies eines jener größeren Geheimnisse, für deren Enthüllung der Geist jener Menschen noch nicht reif war. "Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt
es jetzt noch nicht tragen."

Nichtsdestoweniger sind die Predigten Christi mit Anspielungen und Hinweisen auf den Ablauf des Entwicklungsplanes Gottes förmlich durchwirkt. Viele Seiner Worte nehmen eine reichere, tiefere Bedeutung an, wenn sie vor dem Hintergrund dieses Gesamtplanes überdacht werden. Nur wenn Seine Lehre als Teil einer fortschreitenden Offenbarung erwiesen wird, wenn sie so verstanden wird, daß sie
als Antwort auf die besondere Not der Menschheit in einer bestimmten Zeit und als tragende Grundlage für einen abgegrenzten Abschnitt auf ihre Entwicklungsreise berechnet ist — nur dann lässt sich in dieser Lehre erkennen, dass sie ihre eigene Form und Gestalt hat und ein folgerichtiges, geordnetes Ganzes ist, eine genau durchdachte Verordnung, die für die geistigen Krankheiten eines bestimmten Zeitalters verschrieben wurde.

Erst wenn das Evangelium so betrachtet wird, kann die Weisheit Christi und Seine Macht wirklich verstanden werden. Christus gab verschiedene Hinweise auf andere Offenbarungen, vor und nach der Seinen. Aber es ist besonders einer, der von hervorragender Bedeutung ist, weil er darin den inneren geistigen Zusammenhang Seiner eigenen Offenbarung mit den früheren der vorisraelitischen Zeit be-
kräftigt, als Seine Vollmacht einmal von gewissen Juden angezweifelt wird. "Jesus sagte zu ihnen: ,Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, bevor Abraham war, bin Ich."' (Joh. 8, 58). Die Juden bezogen dies auf Jesus, den Sohn der Maria, der vor ihnen stand; sie meinten deshalb, Er spotte über sie. Gläubige
Menschen wissen, dass Er nicht von dem Einzelwesen Jesus sprach, sondern von dem ewigen Christus. Christus, das Wort Gottes, das durch Jesus sprach, das wie eine Sonne war, deren Strahlen in Jesus wie in einem Spiegel wiedergegeben wurden, hatte zu den Menschen schon lange vor dem Propheten Abraham gesprochen und Seine Kräfte, Seine Erscheinungen, Seine Äußerungen nicht auf die Juden beschränkt. Die Offenbarung Gottes durch das ewige Wort ging der jüdischen Rasse voraus
und wirkte bereits seit unvordenklichen Zeiten. Jesus setzte keine rückwärtige Zeitgrenze. Er sagte, dass die Gottesoffenbarung in der Welt wirkte, ehe die jüdische Geschichte begann, und immer ein und dieselbe war, der Quelle und dem Geist nach immer gleich mit dem, was nunmehr durch Jesus von Nazareth gewährt wurde.

Jesus war nicht berufen, weiter ins Einzelne zu gehen. Offen verwarf Er die arrogante Ausschließlichkeit der selbstgerechten Juden und offenbarte damit — wie es Seine Art war — den Menschen eine Wahrheit von viel tieferer Bedeutung, als es dem oberflächlichen Blick erscheint.

Während Jesus hier und an anderer Stelle die Einheit und Ganzheit aller Offenbarung betonte, hob Er besonders und in allen Einzelheiten einen Teilabschnitt des Offenbarungsplanes Gottes hervor, nämlich Seine eigene Nachfolge Mose, das Wesen des Übergangs von einer göttlichen Sendung auf
die andere, und die Beziehungen zwischen den beiden miteinander verbundenen, aber verschiedenen Lehrgebäuden.

Das war für die Juden eine Sache von überragender Bedeutung. Für uns heute, die wir uns um den einheitlichen Plan Gottes bemühen, ist es darüber hinaus von Interesse: Wenn wir diese Beziehung demütig und aufmerksam studieren, können wir möglicherweise das Prinzip der Aufeinanderfolge entdecken, das einer Bewegung, die durch eine Reihe getrennter Impulse vorangetragen wird, Beständig-
keit verleiht. Wir können uns zum Beispiel einen Begriff bilden von der Art der geistigen Beziehung, die zwischen dem Wirken Abrahams und demjenigen Moses, der Jenem folgte, bestanden haben muß, und können vielleicht abschätzen, welche Art von Änderungen und Fortschritten über diejenigen Seines ersten Lehrsystems hinaus Christus der Menschheit bei Seinem zweiten Kommen bringen wird.

Kapitel VII des Buches "The Heart of the Gospel" (Das Herz des Evangeliums) von George Townshend, 3. Auflage 1960, Talisman Books No. 2, mit freundlicher Genehmigung des Verlags George Donald, 5 Barandon Street, London W. ll. Copyright 1951 by George Townshend.

George Townshend war ein hoher anglikanischer Geistlicher, ehe er sich als Bahá’í erklärte. Er verdeutlicht in diesem Werk die Bibel als einen Heilsplan Gottes für die Menschheit im Sinne einer fortschreitenden Gottesoffenbarung im Gang der Weltgeschichte.

i) Bahá’u’lláh, "Buch der Gewißheit" , Frankfurt 1958.
(Aus Bahá’í-Briefe April 1964, Heft 16)


Gebet

O Du barmherziger Gott, schenke mir ein Herz, das dem Kristalle gleich vom Lichte Deiner Liebe durchstrahlt wird, und verleihe mir die Erleuchtung, welche diese Welt durch geistige Gnade in einen Rosengarten verwandeln kann. Du bist der Erbarmer, der Gnadenvolle! Du bist der große, wohltätige Gott."

'Abdu'l-Bahá

("Sonne der Wahrheit“ Jan./Feb. 1948, S. 175)


Vertiefung: George Townshend - Christus und die Kette der Offenbarungen

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