Lesen: Ein Gemeinsamer Glaube



Ein gemeinsamer Glaube

Eine Veröffentlichung des Bahá’í–Weltzentrums
Bahá’í–Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit (Hrsg.):
Ein gemeinsamer Glaube
Deutsche Übertragung des englischen Originals
One Common Faith, zusammengestellt und herausgegeben
im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit
Bahá’í World Centre, Haifa 2005

© Bahá’í-Verlag GmbH
D–65719 Hofheim 2006 – 163
ISBN 3-87037-449-7
Titel-Nr. 425-541
Vorwort

Zu Ridván 2002 richteten wir einen offenen Brief an die Repräsentanten der Religionen der Welt. Unser Handeln entsprang der Erkenntnis, dass die Krankheit sektiererischen Hasses grauenvolle Konsequenzen nach sich ziehen wird, die kaum eine Region der Welt unberührt lassen, wenn es nicht gelingt, ihr entschieden entgegenzutreten. Der Brief brachte auch seine hohe Wertschätzung gegenüber den Erfolgen der interreligiösen Bewegung zum Ausdruck. Seit deren frühesten Tagen sind Bahá’í darum bemüht, hier ihren Anteil zu leisten. Trotzdem sahen wir uns genötigt, freimütig Folgendes zu sagen: Wenn die religiöse Krise so ernst genommen werden soll wie andere Vorurteile die die Menschheit belasten, muss die institutionalisierte Religion aus sich selbst den Mut finden, sich über die festgefahrenen Konzepte zu erheben, die sie aus der Vergangenheit mitschleppen.
Vor allem gaben wir unserer Überzeugung Ausdruck, dass die Zeit gekommen ist, in der religiöse Führung sich ehrlich und ohne weitere Ausflüchte mit allen Konsequenzen der Wahrheit stellen muss, dass Gott nur einer ist und dass jenseits aller kulturellen Ausdrucksform und menschlicher Interpretation auch Religion nur eine ist. Es war die Ahnung dieser Wahrheit, die ursprünglich die interreligiöse Bewegung inspiriert und sie auch durch alle Wechselbäder der letzten hundert Jahre am Leben erhalten hat. Das Prinzip der Einheit der Religionen stellt den Wahrheitsgehalt keiner einzigen dieser großen Offenbarungen in Frage, es garantiert vielmehr den Fortbestand und die Bedeutung der Religion. Damit dieses Prinzip aber seinen Einfluss wirklich geltend machen kann, muss die Anerkennung dieser Tatsache ins Zentrum des interreligiösen Diskurses rücken, und es war unsere Absicht, dies in unserem Brief auch explizit auszudrücken.
Die Antworten waren ermutigend. Bahá’í-Institutionen auf der ganzen Welt sorgten dafür, dass Tausende von Exemplaren dieses Dokumentes an die einflussreichsten Vertreter der großen Religionsgemeinschaften versandt wurden.
Während es vielleicht nicht überrascht, dass der Inhalt dieser Botschaft in einigen Kreisen abgelehnt wurde, berichteten die Bahá’í, dass sie im Großen und Ganzen sehr positiv aufgenommen wurde. Besonders ergreifend war die deutlich spürbare aufrichtige Sorge vieler Empfänger über das Versäumnis religiöser Institutionen, den Menschen bei der Bewältigung der im Grunde geistigen und moralischen Herausforderungen zu helfen. Die Diskussionen drehten sich schnell um die Notwendigkeit, einen fundamentalen Wandel im Denken darüber herbeizuführen, wie die gläubigen Massen zueinander finden sollen. In mehreren Fällen waren diejenigen, die den Brief erhalten haben, bereit, ihn zu vervielfältigen und an andere Amtsträger innerhalb ihrer entsprechenden Institutionen weiterzugeben. Wir hoffen, dass unsere Initiative als Katalysator dienen kann und einen Weg öffnet, den Sinn und Zweck der Religion neu zu verstehen.
Unabhängig davon, wie schnell oder wie langsam sich dieser Wandel vollzieht, müssen sich die Bahá’í dabei ihrer eigenen Verantwortung stellen. Die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich Menschen überall auf der Welt auf Seine Botschaft einlassen, hat Bahá’u’lláh auf die Schultern derer gelegt, die Ihn erkannt haben. Dafür haben sich die Bahá’í von Anfang an eingesetzt und das hat ihre Glaubensgeschichte geprägt. Der beschleunigte Zusammenbruch der sozialen Ordnung macht es dringend erforderlich, dass der religiöse Geist von den Fesseln befreit wird, die ihn bis jetzt daran gehindert haben, den heilsamen Einfluss auszuüben, dessen er fähig ist.
Wenn die Bahá’í eine Antwort auf die Nöte unserer Zeit geben wollen, müssen sie verstehen, wie sich das spirituelle Leben der Menschheit entwickelt. Bahá’u’lláhs Schriften bieten Einsichten, die helfen können, die Diskussion um religiöse Fragen über sektiererische und zeitbedingte Überlegungen zu erheben. Die Verpflichtung von diesen spirituellen Quellen Gebrauch zu machen, ist untrennbar mit dem Geschenk des Glaubens selbst verbunden. „Religiöser Fanatismus und Hass“, warnt Bahá’u’lláh, „sind ein weltverzehrendes Feuer, dessen Gewalt niemand löschen kann. Nur die Hand Göttlicher Macht kann die Menschheit von dieser verheerenden Plage erlösen.*“ Mehr und mehr erkennen die Bahá’í, dass ihr Glaube die vorderste Front eines allgemeinen Erwachens darstellt, das Menschen überall auf der Welt ergreift – unabhängig von deren religiösem Hintergrund – und sogar viele Menschen ohne religiöse Neigung einbezieht.
Die Reflexion dieser Herausforderung war der Anlass, die nachfolgende Erklärung in Auftrag zu geben. Der Text: „Ein gemeinsamer Glaube“, wurde unter unserer Leitung erstellt. Es werden Passagen aus den Schriften Bahá’u’lláhs und anderer Religionen auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise beleuchtet. Wir empfehlen ihn dem sorgfältigen Studium der Freunde.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit
Naw-Rúz 2005

* Ährenlese 132:2

Ein gemeinsamer Glaube
1 Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, dass die Periode der Geschichte, die jetzt beginnt, sehr viel empfänglicher sein wird für das Bemühen, die Botschaft Bahá’u’lláhs zu verbreiten, als dies in dem Jahrhundert der Fall war, das gerade hinter uns liegt. Alles deutet darauf hin, dass eine grundlegende Veränderung im menschlichen Bewusstsein begonnen hat.
2 Im frühen zwanzigsten Jahrhundert hat eine materialistische Interpretation der Wirklichkeit sich so durchgesetzt, dass sie für die Ausrichtung der Gesellschaft zur beherrschenden Weltreligion wurde. Dadurch wurde der Prozess der Zivilisation gewaltsam aus einer Bahn geworfen, der er über Jahrhunderte gefolgt war. Die göttliche Autorität bildete einst – trotz allen Unterschieden der Interpretation – den Mittelpunkt geistiger Führung. Für viele im Westen scheint sich diese Autorität aufgelöst zu haben. Im Großen und Ganzen war es dem Einzelnen nun selbst überlassen, die Beziehung zu pflegen, die seiner Meinung nach sein Leben mit der geistigen Welt verband. Die Gesellschaft als Ganze aber schritt mit wachsender Selbstsicherheit darin fort, eine Konzeption des Universums aufzugeben, die für sie bestenfalls Fiktion, schlimmstenfalls aber Opium war – in jedem Fall aber ein Hemmnis für den Fortschritt. Die Menschheit hatte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und hat durch Experimente und Diskussionen alle fundamentalen gesellschaftlichen Fragen auf rationalem Weg gelöst – so hat man die Menschen es zumindest glauben lassen.
3 Diese Haltung wurde noch verstärkt durch die Annahme, dass die Werte, die Ideale und die Disziplin, die über Jahrhunderte kultiviert worden waren, nun fest verankert seien und zu beständigen Eigenschaften der menschlichen Natur würden. Sie müssten nur noch auf dem Bildungsweg verfeinert und durch gesetzgebende Maßnahmen in Kraft gesetzt werden. Das moralische Vermächtnis der Vergangenheit war eben dieses: Das unantastbare Erbe der Menschheit benötigt keine weitere religiöse Einmischung mehr. Allerdings könnten undisziplinierte Individuen, Gruppen oder sogar ganze Nationen darin fortfahren, die soziale Ordnung zu bedrohen, was bestraft werden müsste. Doch die universale Zivilisation, zu der all die Kräfte der Geschichte beigetragen hatten, würde unweigerlich entstehen und wäre inspiriert von einer rein säkularen Weltsicht. Das Glück des Menschen wäre künftig das natürliche Ergebnis von besserer Gesundheit, besserer Ernährung, besserer Erziehung und Bildung und besseren Lebensbedingungen. Diese zweifelsohne wünschenswerten Ziele schienen nun für eine Gesellschaft, die sich zielstrebig darum bemühte, erreichbar zu sein.
4 In den Teilen der Erde, wo die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, blieb die Schlagzeile, dass Gott tot sei, größtenteils unbeachtet. Die Erfahrungen der Völker in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Pazifik hatten sie schon lange in ihrer Auffassung bestätigt, dass nicht nur die menschliche Natur tief beeinflusst ist von geistigen Kräften, sondern dass ihre eigentliche Identität spirituell ist. Folglich fungierte die Religion weiter so wie seit jeher als letztendliche Autorität im Leben. Zwar gerieten diese Überzeugungen nicht unmittelbar in die Schusslinie der ideologischen Revolution im Westen, aber im täglichen Umgang der Völker und Nationen wurden sie höchst erfolgreich verdrängt. Nachdem der dogmatische Materialismus auf globaler Ebene alle wesentlichen Zentren der Macht und der Information erobert hatte, sorgte er dafür, dass konkurrierende Meinungen kein Gehör mehr fanden, wenn sie ihre Stimme erhoben, um Projekte weltweiter ökonomischer Ausbeutung anzuzweifeln. Zu dem kulturellen Schaden, der durch zwei Jahrhunderte kolonialer Herrschaft verursacht wurde, kam noch eine quälende Diskrepanz zwischen der inneren und äußeren Erfahrung der betroffenen Massen, in nahezu allen Bereichen des Lebens. Hilflos, einen wirklichen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Zukunft oder auch nur die Chance zu haben, die moralische Unversehrtheit ihrer Kinder zu bewahren, wurden diese Völker in eine Krise gestürzt. Diese unterschied sich von der sich verschärfenden Krise in Europa und Nordamerika, aber sie wirkte sich oftmals weit verheerender aus. Obwohl er seine zentrale Rolle im Bewusstsein der Menschen behielt, schien der Glaube dennoch machtlos, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen.
5 Als das 20. Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, schien daher das plötzliche Wiederaufleben der Religion völlig unwahrscheinlich, schon gar nicht als ein Thema von globaler Bedeutung. Doch genau das passiert jetzt in Form einer plötzlichen Woge von Angst und Unzufriedenheit, wobei das Bewusstsein darüber, dass gerade die spirituelle Leere diese Woge ausgelöst hat, nach wie vor schemenhaft ist. Uralte sektiererische Konflikte, die offensichtlich nicht zugänglich sind für die geduldige Kunst der Diplomatie, tauchten nun plötzlich mit einer Heftigkeit auf, die alles bislang Bekannte in den Schatten stellt. Motive aus den Heiligen Schriften, übernatürliche Phänomene und theologische Dogmen, die noch in jüngster Zeit als Relikte einer Epoche der Ignoranz abgetan worden waren, wurden auf einmal mehr oder weniger willkürlich von einflussreichen Medien aufgegriffen und ausführlich behandelt. In vielen Ländern wurde jetzt der Nachweis der eigenen Religiosität zu einer zwingenden Notwendigkeit, um sich für ein politisches Amt bewerben zu können. Eine Welt, die davon ausging, dass mit dem Zusammenbruch der Mauer in Berlin eine Epoche internationalen Friedens beginnen würde, muss sich nun sagen lassen, dass sie sich mitten in einem Kampf der Kulturen befindet, der seine Wurzeln in unversöhnlicher religiöser Feindschaft hat. Buchhandlungen, Zeitungsläden, Web-Seiten und Büchereien wetteifern darin, ein offensichtlich unerschöpfliches öffentliches Interesse an Information über religiöse und spirituelle Themen zu befriedigen. Der vielleicht nachhaltigste Faktor für diesen Wandel ist die Tatsache, dass man, wenn auch mit Widerwillen, zugeben muss, dass es keinen wirklich glaubwürdigen Ersatz für religiöse Überzeugung gibt, der die Kraft hätte, Selbstdisziplin hervorzubringen und in der Lage wäre, menschliches Verhalten wieder an moralische Vorgaben zu binden.
6 Neben der Aufmerksamkeit, die traditionelle Religion wieder auf sich zieht, gibt es eine weit verbreitete Wiederbelebung spiritueller Suche. Sie hat meist die Form einer persönlichen Identitätssuche, die das rein Materielle übersteigt. Diese Bewegung fördert eine Vielzahl von Beschäftigungen sowohl positiver als auch negativer Art zu Tage. Einerseits fördert die Suche nach mehr Gerechtigkeit und die Unterstützung internationaler Friedensinitiativen auch neue Vorstellungen über die Rolle des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Ähnlich führen auch Bewegungen wie die Umweltschutz- und die Frauenbewegung dazu, dass Menschen ihr Selbstverständnis und den Sinn ihres Lebens neu überdenken, auch wenn solche Bewegungen sich eigentlich mehr darauf konzentrieren, ein Wandel in den gesellschaftlichen Entscheidungsfindungsprozessen herbeizuführen. Eine Umorientierung vollzieht sich in allen bedeutenden religiösen Gemeinschaften durch ein beschleunigtes Abwandern der Gläubigen von den traditionellen Richtungen ihres Ursprungsglaubens hin zu Sekten, die die geistige Suche und das persönliche Erleben ihrer Mitglieder betonen. Auf der anderen Seite locken außerirdische Erscheinungen, Selbsterfahrungsmethoden, Rückzug in die Wildnis, charismatische Begeisterung, New-Age-Schwärmerei unterschiedlichster Art und die bewusstseinserweiternde Wirkung, die Drogen und Halluzinogenen zugeschrieben wird, Anhänger in weit größerem Maße als alles, was ein Jahrhundert zuvor an einem vergleichbaren historischen Wendepunkt Menschen an spiritistischen und theosophischen Bewegungen angezogen hatte. Die starke Zunahme sogar von Kulten, Ritualen und Methoden, die bei vielen Menschen Aversionen hervorrufen können, erinnert die Bahá’í an eine Einsicht aus der alten Geschichte von Majnún, der den Staub siebte bei seiner Suche nach seiner geliebten Laylí, obwohl er doch wusste, dass sie reiner Geist war: „Ich suche sie überall, vielleicht, dass ich sie irgendwo finde.“_1

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7 Das wiedererwachte Interesse an Religion ist offensichtlich noch weit von seinem Höhepunkt entfernt, sei es in seiner explizit religiösen oder einer mehr undefinierbaren spirituellen Ausdrucksform. Ganz im Gegenteil. Das Phänomen ist das Ergebnis von Kräften aus der Vergangenheit, die stetig an Schwungkraft gewinnen. Gemeinsam ist ihnen der Effekt, dass sie die Sicherheit untergraben, die die Welt im 20. Jahrhundert erworben hat: die materielle Existenz sei die höchste Realität.
8 Der offensichtlichste Anlass für diese Neubewertung war wohl der Bankrott des materialistischen Projekts selbst. Für weit über hundert Jahre war die Vorstellung von Fortschritt eng verbunden mit wirtschaftlichem Wachstum und der Annahme, ihm sei die Fähigkeit eigen, gesellschaftlichen Aufschwung in Gang zu bringen und zu gestalten. Die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten konnten diese Weltsicht nicht verunsichern, allenfalls einzelne Konzepte, die sich damit beschäftigten, wie ihre Ziele am besten zu erreichen wären. Seine extremste Form, das „eherne Gesetz“ des „wissenschaftlichen Materialismus“, suchte alle Aspekte der Geschichte und des menschlichen Verhaltens mit den eigenen eng gefassten Begriffen neu zu interpretieren. Ganz gleich, welche humanitären Ideale einige seiner frühen Befürworter auch inspiriert haben mögen, die Folge überall in der Welt waren totalitäre Systeme, die bereit waren, sich aller nur möglichen Zwangsmaßnahmen zu bedienen, um das Leben ihrer unglücklichen Untertanen zu reglementieren. Das Ziel, so suchte man diesen Missbrauch zu rechtfertigen, sei die Schaffung einer völlig neuen Art von Gesellschaft, die nicht nur die Befreiung von jeglicher materieller Not garantierte, sondern auch dem menschlichen Geist Erfüllung versprach.
Am Ende, nach acht Jahrzehnten stetig steigender Torheit und Brutalität, scheiterte die Bewegung in ihrem Anspruch, für die Zukunft der Welt glaubwürdige Führung geben zu können.
9 Andere Systeme auf dem Feld des gesellschaftlichen Experimentierens, die den Rückgriff auf unmenschliche Methoden ablehnten, leiteten dennoch ihre moralische und intellektuelle Stoßkraft von den gleichen begrenzten Vorstellungen der Realität ab. Die Auffassung setzte sich durch, dass der Aufbau von gerechten und wohlhabenden Gesellschaften durch das eine oder andere System der so genannten Modernisierung gewährleistet werden könnte, da Menschen im Grunde stets an sich selbst denken, wenn es um ihr wirtschaftliches Wohlergehen geht. Die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts versanken jedoch unter einem stetig wachsenden Berg von Beweisen für das Gegenteil: der Zusammenbruch des Familienlebens, steigende Kriminalität, nicht funktionierende Erziehungssysteme und eine Fülle weiterer gesellschaftlicher Krankheiten. Das alles ruft die düsteren Worte Bahá’u’lláhs in Erinnerung, mit denen er auf den bedrohlichen Zustand der Gesellschaft hinweist: „Ihr Zustand wird so werden, dass es nicht angemessen und schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen.“2
10 Die Geschichte dessen, was man „sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt“ genannt hat, lässt keinen Zweifel daran, auch die edelsten Motive können die fundamentalen Fehler des Materialismus nicht korrigieren. Entstanden nach dem Chaos am Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde „Entwicklung“ das bei weitem größte und ehrgeizigste Unternehmen, das die Menschheit jemals gemeinsam begonnen hat. Der enorme materielle und technologische Aufwand entsprach der humanitären Motivation. Fünfzig Jahre später muss das Vorhaben trotz der beeindruckenden Wohltaten, die die Entwicklung gebracht hat, an seinen eigenen Kriterien gemessen, als entmutigender Fehlschlag eingestuft werden. Weit davon entfernt, die Kluft zwischen dem kleinen Teil der Menschheitsfamilie, der sich der Segnungen der Moderne erfreuen kann, und der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung, die tief in hoffnungsloser Not versinkt, zu verringern, hat die gemeinsame Bemühung, die mit soviel Hoffnung begonnen hatte, nur dazu geführt, dass die Lücke zu einem Abgrund wurde.
11 Der konsumorientierte Lebensstil, heute das Erbe des materialistischen Prinzips von humanitärem Fortschritt, schämt sich keineswegs für die flüchtige Natur der Ziele, die ihn inspiriert haben. Für die kleine Minderheit, die es sich leisten kann, liegen die Vorzüge auf der Hand und müssen nicht weiter gerechtfertigt werden. Der Vormarsch dieses neuen Credos, bestärkt durch den Zusammenbruch traditioneller Moralvorstellungen, ist in Wirklichkeit nicht mehr als der Triumph animalischer Triebe – genauso instinktiv und blind wie der Hunger –, die sich endlich aus den Zwängen übernatürlicher Sanktionen befreit sehen. Das augenfälligste Opfer war die Sprache. Neigungen, die früher allgemein als moralische Verfehlungen gegeißelt wurden, mutierten zu Voraussetzungen des sozialen Fortschritts. Selbstsucht wurde zu einer wertvollen wirtschaftlichen Ressource. Lüge definierte sich neu als öffentliche Information. Perversionen unterschiedlichster Art beanspruchten unverfroren den Status eines Bürgerrechts. Unter entsprechenden Beschönigungen erwarben Gier, Lust, Trägheit, Hochmut, ja sogar Gewalttätigkeit nicht nur eine weit verbreitete Akzeptanz, sondern sozialen und ökonomischen Wert. So wie die Begriffe ihrer Bedeutung beraubt wurden, haben ironischerweise auch die materiellen Bequemlichkeiten und Errungenschaften, für die die Wahrheit geopfert wurde, ihren Sinn verloren.
12 Offensichtlich lag der Fehler des Materialismus nicht in dem lobenswerten Bemühen, die Bedingungen des Lebens verbessern zu wollen, sondern in der Beschränktheit des Ansatzes und dem ungerechtfertigten Selbstvertrauen in seine Mission. Die Bedeutung des materiellen Wohlstandes, wie des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zur Erlangung desselben, ist ein Thema, das sich durch die Schriften des Bahá’ítums zieht. Es kam, wie es kommen musste: Jedwede Bemühung, das physische und materielle Wohlergehen der Menschheit von ihrer spirituellen und moralischen Entwicklung zu trennen, endete mit dem Verlust der Loyalität eben jener Völker, deren Interesse der materielle und kulturelle Fortschritt angeblich dient. „Sei Zeuge, wie die Welt täglich von einem neuen Unheil heimgesucht wird“, warnt Bahá’u’lláh, „Ihr Siechtum nähert sich einem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit, weil der wahre Arzt gehindert wird, das Heilmittel zu reichen, während ungeschickte Quacksalber begünstigt werden und volle Handlungsfreiheit genießen.“3

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13 An der Schwelle zum 21. Jahrhundert verstärkte die globale Vernetzung mit ihrer alles verändernden Dynamik die Ernüchterung der Menschheit über die Versprechungen des Materialismus und brachte die irrigen Vorstellungen über die Wirklichkeit aller Dinge ins Wanken. Am ehesten zeigt sich die globale Vernetzung in den Errungenschaften der Kommunikationstechnologie, die breite Wege der Interaktion zwischen den unterschiedlichsten Völkern dieses Planeten eröffnet. Neben der Erleichterung des interpersonalen und intersozialen Austausches hat der generelle Zugang zu Informationen den Effekt, dass das gesammelte Wissen aus Jahrhunderten, statt wie bislang nur einer Elite zugänglich zu sein, zum kulturellen Erbe der ganzen Menschheit wird, ohne Unterscheidung der Nation, Rasse oder der Kultur. Trotz aller Ungerechtigkeit, die die globale Vernetzung konserviert, ja noch verstärkt, kann doch kein informierter Beobachter leugnen, dass von diesem Wandel der Impuls ausgeht, über das Wesen der Wirklichkeit erneut nachzudenken. Mit der Reflexion einher ging auch ein Hinterfragen aller etablierten Autoritäten, nicht nur, wie bisher der Religion und der Moral, sondern ebenso des Staates, der Hochschule, des Handels, der Medien und zunehmend auch der Wissenschaft.
14 Abgesehen von den technologischen Faktoren beeinflusst die Vereinigung des Planeten in sehr viel direkterem Maße unser Denken. So kann man z.B. das Ausmaß, in dem der Massentourismus auf internationaler Ebene das globale Bewusstsein verändert hat, nicht hoch genug einschätzen. Größer noch sind die Auswirkungen der enormen Migrationen, die die Welt sah, seit der Báb vor anderthalb Jahrhunderten Seine Sendung verkündete. Millionen von Flüchtlingen, auf der Flucht vor Verfolgung, fegen wie eine Flutwelle besonders über Europa, Afrika und Asien hinweg. Inmitten des dadurch verursachten Leids lässt sich die wachsende Integration der Rassen und Kulturen wahrnehmen, die mehr und mehr zu Bürgern eines gemeinsamen globalen Heimatlandes werden. In der Folge wurden Menschen verschiedenster Herkunft mit anderen Kulturen und Normen konfrontiert, von denen ihre Vorfahren wenig oder gar nichts wussten, was zu einer neuen, unumgänglichen Sinnsuche angeregt hat.
15 Man kann sich kaum ausmalen, wie anders die Geschichte der letzten 150 Jahre abgelaufen wäre, hätte einer der Herrscher der Welt, an die Bahá’u’lláh sich wandte, sich Zeit genommen, über ein Konzept nachzudenken, das getragen war von der moralischen Glaubwürdigkeit seines Autors, einer Glaubwürdigkeit, die höchste Beachtung verdiente. Obgleich die Herrscher Bahá’u’lláhs Botschaft missachteten, ist für die Bahá’í zweifelsfrei zu erkennen, dass sich die großen Veränderungen, die in Bahá’u’lláhs Botschaft angekündigt wurden, unwiderstehlich durchsetzen. Durch gemeinsame Erkenntnisse und gemeinsames Leiden werden Menschen verschiedener Kulturen gezwungen, das gemeinsame Menschsein hinter der Oberfläche eingebildeter Identitätsunterschiede zu entdecken. Ganz gleich, ob er nun von den einen hartnäckig abgelehnt oder von den anderen als Befreiung von sinnlosen und erstickenden Begrenzungen begrüßt wird, der Gedanke, dass die Bewohner der Erde tatsächlich „die Blätter eines Baumes“4 sind, entwi
ckelt sich zu einer Norm, an der die kollektiven Bemühungen der Menschheit gemessen werden.
16 Der Verlust des Glaubens an die Axiome des Materialismus und die fortschreitende Globalisierung menschlicher Erfahrung verstärken beide das Verlangen, den Sinn des Lebens neu zu verstehen. Grundlegende Werte werden angezweifelt; kirchliche Verbundenheit wird aufgegeben; einst undenkbare Forderungen werden akzeptiert. Es ist dieser universelle Umbruch, so erklärt Bahá’u’lláh, für den die Schriften der früheren Religionen das Bild von dem „Tag der Auferstehung“ gebrauchten. „Der Ruf ist erschallt, und die Menschen sind aus ihren Gräbern hervorgekommen; sie stehen auf und sehen sich um.“5 Hinter aller Verwirrung und allem Leid verbirgt sich im Wesentlichen ein geistiger Prozess: „Der Odem des Allbarmherzigen wehte, und die Seelen wurden in den Gräbern ihrer Körper erquickt.“6

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17 Im Laufe der Geschichte waren zu aller Zeit die großen Religionen die primären Kräfte für geistige Entwicklung. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung haben die Schriften eines jeden dieser Glaubenssysteme, in Bahá’u’lláhs Worten als „die Stadt Gottes“ gedient, als Quelle einer Erkenntnis, die das Bewusstsein völlig umfasst7 eine Quelle, die so bezwingend ist, dass sie die Aufrichtigen mit einem „neuen Auge, einem neuen Ohr, einem neuen Herzen und einem neuen Geist“8 beschenkt. Zahllose Schriften, zu denen alle Religionen beigetragen haben, beschreiben die Erfahrung von Transzendenz, von der Generationen von Suchern erzählen. Durch die Jahrtausende hat das Leben von Menschen, die auf die Zeichen des Göttlichen geantwortet haben, atemberaubende Leistungen in Musik, Architektur und anderen Künsten inspiriert, die alle in einem endlosen Reigen die Erfahrungen der Seele für Millionen von Gläubigen wiedergeben. Keine andere Kraft war jemals in der Lage, in den Menschen solche Größe von Heroismus, Selbstaufopferung und Selbstdisziplin zu bewirken. Auf der gesellschaftlichen Ebene haben sich oft genug daraus resultierende moralische Prinzipien in universelle Gesetzeswerke verwandelt, die die Beziehungen der Menschen untereinander regeln und verbessern. So gesehen erscheinen die großen Religionen als die primären Antriebskräfte des Zivilisationsprozesses. Etwas anderes zu behaupten, hieße, die Tatsachen der Geschichte zu ignorieren.
18 Warum dient dann dieses immens reiche Erbe nicht als Plattform für das Erwachen spiritueller Suche in heutiger Zeit? An der Peripherie werden ernsthafte Versuche unternommen, die Lehren neu zu formulieren, die den entsprechenden Glauben begründet haben, in der Hoffnung, sie könnten dadurch neue Ausstrahlung gewinnen, aber der größte Teil dieser Versuche ist diffus, individualistisch und unzusammenhängend. Die Schriften haben sich nicht geändert; die moralischen Prinzipien, die sie enthalten, haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Niemand, der mit aufrichtigem Herzen den Himmel befragt, wird darin scheitern, eine Antwort aus den Psalmen oder den Upanischaden zu hören, wenn er nur beharrlich genug ist. Jeder, der auch nur eine Ahnung von der Wirklichkeit in sich trägt, die die Materie übersteigt, wird in seinem Herzen berührt von der Art und Weise, wie vertraut Jesus oder Buddha davon spricht. Die apokalyptischen Visionen des Qur’án geben seinen Lesern weiterhin die unumstößliche Gewissheit, dass die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Zentrum göttlicher Absicht steht. In seinen wesentlichen Merkmalen ist auch heute das Leben der Helden und Heiligen sicherlich nicht weniger bedeutsam als zu der Zeit, als sie gelebt haben, auch wenn seitdem Jahrhunderte vergangen sind. Daher ist für viele religiöse Menschen der schmerzlichste Aspekt der gegenwärtigen Zivilisationskrise, dass die Suche nach Wahrheit sich nicht zuversichtlich den bekannten Wegen der Religion zuwendet.
19 Das Problem ist tatsächlich ein zweifaches: Die mit Vernunft begabte Seele beschäftigt sich nicht nur mit sich selbst, sie wirkt auch aktiv an der Gesellschaftsordnung mit. Obwohl die offenbarten Wahrheiten der großen Religionen gültig bleiben, haben sich die alltäglichen Erfahrungen eines Menschen des 21. Jahrhunderts unvorstellbar weit von dem entfernt, was er zu einer Zeit wissen konnte, als diese Lehren offenbart wurden. Demokratische Entscheidungsfindung hat das Verhältnis des Einzelnen zur Autorität fundamental verändert. Zu Recht bestehen Frauen mit wachsendem Selbstvertrauen und wachsendem Erfolg auf ihrem Recht auf völlige Gleichberechtigung mit dem Mann. Revolutionen in Wissenschaft und Technologie verändern nicht nur das Funktionieren, sondern auch das Konzept der Gesellschaft schlechthin, ja das Leben selbst. Umfassende Erziehung und ein explosionsartiger Anstieg von neuen Feldern der Kreativität öffnen den Weg zu Einsichten, die soziale Mobilität und Integration fördern und Chancen entstehen lassen. Rechtsstaatlichkeit stärkt die Bürger darin, hieraus den vollen Nutzen zu ziehen. Stammzellenforschung, Kernenergie, die Frage der sexuellen Identität, ökologische Belastung und die Verteilung des steigenden Wohlstandes sind gesellschaftliche Fragen ohne historisches Beispiel. Diese und zahllose andere Veränderungen, die jeden Aspekt menschlichen Lebens berühren, haben eine neue Welt täglicher Entscheidungen geschaffen für die Gesellschaft als Ganzes wie für ihre einzelnen Mitglieder. Was sich allerdings nicht verändert hat, ist die Notwendigkeit, sich zu entscheiden, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Genau an dieser Stelle tritt die spirituelle Natur der heutigen Krise am schärfsten hervor, weil die meisten Entscheidungen nicht nur pragmatischer, sondern moralischer Art sind. Hauptsächlich war deshalb der Verlust des Glaubens in die traditionelle Religion eine zwangsläufige Konsequenz, weil man nicht bereit war, in ihr die Führung zu sehen, die notwendig ist, um in der Moderne erfolgreich und mit Sicherheit leben zu können.
20 Ein zweites Hindernis für ein Wiedererstarken der ererbten Glaubenssysteme als Antwort auf die spirituellen Sehnsüchte der Menschheit sind die bereits erwähnten Effekte der Globalisierung. Überall auf dem Planeten sehen sich Menschen, die in einem vorgegebenen religiösen Rahmen groß geworden sind, plötzlich in engem Kontakt zu anderen, deren Glaubensüberzeugungen und Praktiken zumindest auf den ersten Blick mit ihren eigenen unvereinbar sind. Diese Unterschiede lassen nur zu leicht Abwehrhaltungen entstehen, können Ressentiments anheizen und Konflikte heraufbeschwören. In vielen Fällen wird dadurch aber eher ein Hinterfragen der eigenen übernommenen Glaubenslehren angeregt und das Bemühen gefördert, Werte zu entdecken, die allen gemein sind. Die Unterstützung, die zahlreiche interreligiöse Aktivitäten erfahren, geht zweifelsohne auf eine derartige Resonanz in der breiten Öffentlichkeit zurück. Unweigerlich geht mit solchen Annäherungen ein Infragestellen jener religiösen Lehren einher, die eine Vereinigung und ein gegenseitiges Verstehen verhindern. Wenn Menschen, deren Glaube sich grundlegend von dem eigenen zu unterscheiden scheint, dennoch ein moralisches Leben führen, das Bewunderung verdient, was ist es dann, was den eigenen Glauben überlegen sein lässt? Andererseits, wenn alle großen Religionen bestimmte grundlegende Werte miteinander teilen, läuft dann nicht konfessionelle Bindung Gefahr, nur unerwünschte Barrieren zwischen dem Individuum und seinen Nachbarn wieder aufzurichten?
21 Nur Wenige von denen, die heute einen gewissen Grad objektiver Vertrautheit mit dem Thema haben, glauben, dass irgendeine der etablierten Religionssysteme aus der Vergangenheit in der Lage wäre, die entscheidende Führungsrolle für die Menschheit in den aktuellen Lebensfragen zu übernehmen, selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ihre verschiedenen Konfessionen eigens zu diesem Zweck zusammenkommen würden. Eine jede der unabhängigen Religionen – oder was man gemeinhin als solche versteht –, ist von ihren verbindlichen Schriften und ihrer Geschichte in eine bestimmte Form gepresst. Da sie nicht frei sind, ihr Glaubenssystem umzugestalten, weil sie ihre Legitimität von den verbindlichen Worten ihres Gründers ableiten, können sie auch nicht die zahlreichen Fragen adäquat beantworten, die durch die soziale und intellektuelle Evolution aufgeworfen werden. Dies mag für viele beunruhigend erscheinen, ist aber nichts weiter als ein Kennzeichen des Evolutionsprozesses selbst. Alle Versuche, ein Zurück zu erzwingen, können nur zu noch größerer Enttäuschung mit der Religion als solcher führen und konfessionelle Konflikte verschärfen.

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22 Das Dilemma ist beides: künstlich und selbstverschuldet. Die Weltordnung, wenn man sie so nennen will, innerhalb der die Bahá’í die Botschaft Bahá’u’lláhs verbreiten, ist von so grundlegend falschen Vorstellungen über die menschliche Natur und die soziale Entwicklung geprägt, dass sie selbst die intelligentesten und wohlmeinendsten Bemühungen ernsthaft behindert, die Menschen zu bessern. Vor allem trifft dies auf die Verwirrung zu, die praktisch jeden Aspekt der Religion umfasst. Um auf die geistigen Nöte ihrer Mitmenschen adäquat antworten zu können, müssen die Bahá’í die relevanten Probleme besser verstehen lernen. Die dafür erforderliche Anstrengung des Denkens kann man möglicherweise mit dem Hinweis würdigen, dass die vielleicht am häufigsten und immer wieder eindringlich wiederholte Ermahnung in den Schriften ihres Glaubens ist: zu „meditieren“, „nachzudenken“ und zu „reflektieren.“
23 Eine Binsenweisheit der Popularwissenschaft besagt, dass unter „Religion“ die Vielzahl der heutigen Konfessionen und Sekten zu verstehen ist. Es ist nicht überraschend, dass eine solche Vorstellung sofort den Protest im anderen Lager weckt, dass mit Religion vielmehr das eine oder andere der großen unabhängigen Glaubenssysteme der Geschichte gemeint sei, die die gesamte Zivilisation geformt und inspiriert haben. Dieser Gesichtspunkt zieht sofort die unausweichliche Frage nach sich, wo denn diese historischen Glaubenssysteme in der heutigen Welt zu finden sind. Wo sind, genauer gesagt, „das“ Judentum, „der“ Buddhismus, „das“ Christentum, „der“ Islam usw., da sie ja offensichtlich nicht mit den sich unversöhnlich gegenüberstehenden Organisationen identifiziert werden können, die behaupten, verbindlich in deren Namen zu sprechen? Das Problem endet hier noch nicht. Eine andere Antwort ist höchstwahrscheinlich, dass unter „Religion“ einfach eine Lebenseinstellung zu verstehen sei, die Ahnung einer Beziehung zu einer Wirklichkeit, die die materielle Existenz übersteigt. So verstanden gehört Religion zum Individuum, ist ein Impuls, der letztlich nicht organisiert werden kann, eine Erfahrung, die jedem zur Verfügung steht. Einer solchen Auffassung fehlt jedoch in den Augen der Mehrheit religiös eingestellter Menschen genau die Autorität, die der Religion ihren Sinn gibt, indem sie Selbstdisziplin hervorbringt und Menschen miteinander verbindet. Einige würden entgegenhalten, dass Religion einen Lebensstil von Menschen bezeichnet, die sich selbst strengen täglichen Ritualen verschrieben haben und eine Selbstverleugnung praktizieren, die sie völlig vom Rest der Gesellschaft absondert. All diesen unterschiedlichen Auffassungen gemeinsam ist die erstaunliche Tatsache, wie ein Phänomen, das anerkanntermaßen jeden menschlichen Horizont übersteigt, dennoch Schritt für Schritt in die enge Begrifflichkeit eigener Ideen eingesperrt wird, seien sie nun organisatorisch, theologisch, empirisch oder rituell.
24 Die Lehren Bahá’u’lláhs durchtrennen diesen Wirrwarr widersprüchlicher Meinungen, und, indem sie dies tun, legen sie viele Wahrheiten neu dar, die explizit oder implizit zum Kern jeder göttlichen Offenbarung gehören. Auch wenn diese Interpretation die Intention Bahá’u’lláhs nicht vollständig wiedergibt, kann man sagen, dass jeder Versuch, die Wirklichkeit Gottes in Katechismen oder Glaubensbekenntnisse einzusperren oder zu beschreiben, einen Akt der Selbsttäuschung darstellt. „Jedem verständigen, erleuchteten Herzen ist offenbar, dass Gott, die unerforschliche Wesenheit, das göttliche Sein, unermesslich erhaben ist über alle menschlichen Merkmale, wie leibliche Existenz, Aufstieg und Abstieg, Ausgang und Rückkehr. Fern sei es Seiner Herrlichkeit, dass des Menschen Zunge angemessen Sein Lob künden oder des Menschen Herz Sein unergründliches Mysterium erfassen könnte.“_9 Das Mittel, dessen sich der Schöpfer aller Dinge bedient, um mit den sich stetig entwickelnden Geschöpfen, die Er ins Dasein gerufen hat, zu interagieren, ist das Auftreten prophetischer Gestalten, die die Eigenschaften einer unzugänglichen Gottheit manifestieren. „Das Tor der Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage ist so vor dem Antlitz aller Wesen verschlossen. Darum hat der Quell unendlicher Gnade ... jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit aus dem Reiche des Geistes in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels erscheinen und allen Menschen offenbar werden lassen, auf dass sie der Welt die Mysterien des unveränderlichen Seins schenken und ihr von Seinem reinen, unsterblichen Wesen künden.“10
25 Sich anzumaßen, zwischen den Boten Gottes zu wägen, indem man den einen höher als den anderen stellt, hieße, sich dem Wahn hinzugeben, der Ewige und Allumfassende wäre menschlichem Gutdünken unterworfen. „So leuchtet dir ein“, sind Bahá’u’lláhs deutliche Worte, „dass alle Propheten Tempel der Sache Gottes sind, die in verschiedenem Gewand erscheinen. Wenn du mit scharfem Auge hinsiehst, wirst du erkennen, dass sie alle im selben Heiligtum wohnen, sich zum selben Himmel aufschwingen, auf demselben Throne sitzen, dieselbe Sprache sprechen und denselben Glauben verkünden.“11 Sich weiterhin vorzustellen, das Wesen dieser einzigartigen Gestalten könnte – oder müsste sogar – durch Theorien begriffen werden, die der physischen Erfahrung entlehnt sind, ist gleichermaßen vermessen. Was mit „Gotteserkenntnis“ gemeint ist, so erklärt Bahá’u’lláh, ist das Wissen über die Manifestationen, die Seinen Willen und Seine Eigenschaften offenbaren. Das ist der Ort, an dem die Seele in eine vertraute Verbindung zu einem Schöpfer gelangt, der sonst jenseits aller Sprache und Fassungskraft liegt. „Weiter bezeuge ich“, ist Bahá’u’lláhs Aussage über die Stufe der Manifestation Gottes, „ ...dass durch Deine Schönheit die Schönheit des Angebeteten entschleiert ward, dass aus Deinem Antlitz das Antlitz des Ersehnten hervorleuchtet...“12
26 So verstanden weckt die Religion in der Seele Möglichkeiten, die andernfalls unvorstellbar wären. In dem Maß, in dem der Mensch lernt, aus dem Einfluss der Offenbarung Gottes für sein Zeitalter einen Nutzen zu ziehen, wird seine Natur nach und nach durchdrungen von den Eigenschaften der göttlichen Welt. „Durch die Lehren dieser Sonne der Wahrheit“, erklärt Bahá’u’lláh, „wird jeder Mensch fortschreiten und sich entwickeln, bis er ... alle in ihm verborgenen Kräfte offenbaren kann, mit denen sein innerstes, wahres Selbst begabt worden ist.“13 Da der Zweck der Menschheit auch darin besteht, „eine ständig fortschreitende Kultur“14 voranzutragen, ist eine der erstaunlichsten Kräfte der Religion, und bestimmt nicht die geringste, ihre Fähigkeit, den Gläubigen den Horizont über das eigene Leben hinaus zu öffnen, so dass sie bereit sind, Opfer für die Generationen späterer Jahrhunderte zu bringen. Weil ja die Seele in der Tat unsterblich ist, wird sie durch das Erwachen ihrer wahren Natur befähigt, dem Entwicklungsprozess zu dienen, nicht nur in dieser Welt, sondern noch unmittelbarer in den Welten, die dahinter liegen. „Das Licht, das diese Seelen ausstrahlen“, erklärt Bahá’u’lláh, „bewirkt den Fortschritt der Welt und den Aufstieg ihrer Völker. ... Alle Dinge haben zwangsläufig eine Ursache, eine treibende Kraft, einen belebenden Grund. Diese Seelen, Sinnbilder der Loslösung, haben der Welt des Daseins den höchsten belebenden Antrieb gegeben und werden ihn auch weiterhin geben.“15
27 Glaube ist folglich das notwendige und unauslöschliche Bedürfnis einer Spezies, die von einem modernen und einflussreichen Denker beschrieben wurde als „Evolution, die sich ihrer selbst bewusst wird.“16 Wenn die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens blockiert werden, erfindet man Objekte der Verehrung, die zwar unwürdig – oder sogar erniedrigend – aber durchaus in der Lage sind, die Sehnsucht nach Gewissheit einigermaßen zu beschwichtigen. Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts liefern dafür traurige und zwingende Beweise. Die Notwendigkeit, an etwas zu glauben, ist so fundamental, dass sie nicht geleugnet werden kann.
28 Kurz, durch den anhaltenden Prozess der Offenbarung zeigt der Eine, Der die Quelle all des Wissens ist, das wir Religion nennen, die Integrität dieses Systems. Er zeigt, dass es frei ist von den Widersprüchen konfessioneller Ansprüche. Das Werk einer jeden Manifestation Gottes hat eine Unabhängigkeit und Autorität, die jenseits aller Bewertung steht; es ist zugleich eine Stufe in der grenzenlosen Entfaltung einer einzigen Wirklichkeit. Die Absicht der aufeinander folgenden Gottesoffenbarungen ist das Erwachen der Menschheit zu ihren Möglichkeiten und zu ihrer Verantwortung als Treuhänder der Schöpfung. Diese Offenbarungen wiederholen deshalb nicht einfach, was bereits vorhanden war. Der Prozess ist ein fortschreitender und wird nur dann richtig verstanden, wenn man ihn als solchen sieht.
29 Keinesfalls können die Bahá’í behaupten, sie hätten zu einer so frühen Stunde auch nur einen Bruchteil dessen verstanden, was an Wahrheiten in dieser Offenbarung enthalten ist, auf der ihr Glaube basiert. Mit Hinweis auf die Entwicklung der Sache Bahá’u’lláhs sagt der Hüter: „Das einzige, was wir vernünftigerweise versuchen können, ist, uns zu bemühen, einen Schimmer der ersten Lichtstreifen der verheißenen Dämmerung zu erhaschen, die, wenn die Zeit gekommen ist, das die Menschheit umschließende Dunkel verjagen wird.“17 Neben der Aufforderung zur Bescheidenheit kann diese Tatsache auch als ständige Mahnung dienen, dass Bahá’u’lláh nicht eine neue Religion ins Leben gerufen hat, damit diese neben der Vielzahl der konfessionsgebundenen Gruppen der Gegenwart steht. Vielmehr hat Er das gesamte Konzept von Religion neu gestaltet als Hauptkraft, welche die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vorantreibt. So wie die Menschheit in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit eine einheitliche Spezies ist, so ist auch die Intervention, durch die Gott die in der Menschheit schlummernden Eigenschaften des Geistes und des Herzens fördert, ein einheitlicher Prozess. Ihre Helden und Heiligen sind Helden und Heilige aller Zeiten und auf allen Schauplätzen des Kampfes; ihre Erfolge sind die Erfolge aller. Das ist die Norm, die im Leben und Werk des Meisters vorgelebt wurde und heute beispielhaft in einer Bahá’í-Gemeinde verwirklicht wird, die Erbe des gesamten geistigen Vermächtnisses der Menschheit geworden ist. Es ist ein Vermächtnis, das allen Völkern der Erde gleichermaßen offensteht.
30 Der immer wiederkehrende Beweis für die Existenz Gottes ist daher, dass Er sich seit undenklichen Zeiten immer wieder selbst offenbart. In einem größeren Zusammenhang, so erklärt Bahá’u’lláh, stellt das gewaltige Epos der religiösen Geschichte der Menschheit die Erfüllung des „Bundes“ dar. Der „Bund“ ist das bleibende Versprechen, mit dem der Schöpfer aller Dinge der Menschheit die nie versagende, immer vorhandene Führung zusagt. Diese Führung ist für ihre geistige und moralische Entwicklung wesentlich und enthält die Aufforderung, diese Werte zu verinnerlichen und ihnen Ausdruck zu verleihen. Natürlich ist es jedem unbenommen, durch eine historisierende Deutung der Quellen die einmalige Rolle des einen oder anderen Boten Gottes zu erörtern, wenn man das will. Aber solche Spekulationen helfen nicht, Entwicklungen zu erklären, die das Denken verändert und Veränderungen im Sozialverhalten herbeigeführt haben, die entscheidend waren für die Entwicklung der Gesellschaft. Die Manifestationen Gottes sind in so großen Abständen erschienen, dass die bekannten Fälle an den Fingern einer Hand abgezählt werden können. Jeder von Ihnen war eindeutig, was die Autorität Seiner Lehren betraf, jeder von Ihnen hat einen so unvergleichlichen Einfluss auf den Fortschritt der Zivilisation ausgeübt wie kein anderes Phänomen in der Geschichte. „Sieh die Stunde, da die höchste Manifestation Gottes sich den Menschen enthüllt“, hebt Bahá’u’lláh hervor: „Ehe diese Stunde kommt, ist das Altehrwürdige Sein, das den Menschen noch unbekannt ist und das Wort Gottes noch nicht ausgesprochen hat, selbst der Allwissende in einer Welt ohne Menschen, die Ihn erkannt hätten. Er ist wahrlich Schöpfer ohne Schöpfung.“18
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31 Der Einwand, der meistens gegen eine fortschreitende Entwicklung der Religion vorgebracht wird, ist die Behauptung, die Unterschiede zwischen den offenbarten Religionen seien so groß, dass es heißen würde, den Tatsachen Gewalt anzutun, wollte man die einzelnen Religionen als Stationen oder Aspekte eines einzigen Systems der Wahrheit verstehen. Angesichts der Verwirrung, welche das Wesen der Religion umgibt, ist diese Reaktion verständlich. Für die Bahá’í ist ein solcher Einwand jedoch in erster Linie eine Einladung zur Präzisierung dieser Gedanken, wie sie sich in den Schriften Bahá’u’lláhs darstellen.
32 Die hier behaupteten Unvereinbarkeiten lassen sich zwei Bereichen zuordnen: der religiösen Praxis und der Lehre. Für beide Bereiche wird angenommen, sie entsprächen der tatsächlichen Intention der jeweils relevanten Heiligen Schriften. Im Falle von religiösen Geboten, die das persönliche Leben regeln, ist es hilfreich, diese religiöse Praxis vor dem Hintergrund vergleichbarer Erscheinungen aus der materiellen Welt zu betrachten. Zwar gibt es durchaus auffällige Unterschiede zwischen den Völkern bei Hygiene, Kleidung, Medizin, Ernährung, Transport, Kriegsführung, Bauwesen und Wirtschaft.
Aber wer wollte damit heute noch begründen, die Menschheit sei in Wirklichkeit nicht ein einziges Volk. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren solche kurzschlüssigen Gedanken noch üblich. Doch heute geben uns historische und kulturwissenschaftliche Forschung ein Panorama der kulturellen Evolution an die Hand, das zeigt, wie diese und zahlreiche andere Leistungen – Erscheinungsformen menschlicher Kreativität – entstanden sind, von Generation zu Generation weitergegeben wurden, Veränderungen durchliefen und sich schließlich oft weit verbreitet haben, um das Leben von Menschen auch in fernen Ländern zu bereichern. Dass die Gesellschaften heute ein weites Spektrum solcher Kulturleistungen verkörpern, bedeutet nicht, dass damit auch die Menschen dort auf starre und unabänderliche Rollen festgelegt wären. Was man sieht, ist vielmehr ein Durchgangsstadium, das bestimmte Gruppen durchlaufen bzw. bis vor kurzem durchlaufen haben. Gleichwohl ist die gesamte Kulturlandschaft jetzt unter dem Druck weltweiter Integration in Fluss geraten.
33 Ein ähnlicher Entwicklungsprozess kennzeichnet nach Bahá’u’lláh auch das religiöse Leben der Menschheit. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass solche Normen keine Zufallsprodukte der Geschichte sind, sondern in jedem Fall als wesentliche Bestandteile der einen oder anderen göttlichen Offenbarung explizit vorgeschrieben wurden. Sie wurden in den Heiligen Schriften festgehalten und über einen Zeitraum von Jahrhunderten unversehrt bewahrt. Bestimmte Eigenschaften eines jeden Verhaltenskodexes haben irgendwann einmal ihren Zweck erfüllt und werden im Zuge gesellschaftlichen Wandels von anders gearteten Interessen verdrängt. Der Kodex als solcher verlor jedoch während der langen Phase des menschlichen Fortschritts, in der er für das Einüben von Verhalten und Gesinnung eine wesentliche Rolle spielte, nichts von seiner Autorität. „Diese Grundsätze und Gesetze, diese fest begründeten, machtvollen Systeme“, stellt Bahá’u’lláh fest, „entspringen einer einzigen Quelle und sind die Strahlen desselben Lichtes. Dass sie voneinander abweichen, ist den unterschiedlichen Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden.“19
34 Zu argumentieren, Unterschiede in den Verordnungen, im religiösen Brauchtum oder in anderen Praktiken würden einen bedeutenden Einwand gegenüber dem Gedanken der wesensmäßigen Einheit der offenbarten Religion darstellen, hieße, den Sinn eben dieser Vorschriften zu verkennen. Mehr noch, dadurch wird der grundsätzliche Unterschied zwischen den unvergänglichen und den vergänglichen Merkmalen der Religion übersehen. Die wesentliche Botschaft der Religion ist unveränderlich. Dies ist in den Worten Bahá’u’lláhs: „Gottes unveränderlicher Glaube, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft.“20 Die Aufgabe der Religion, einen Weg zu öffnen, auf dem die Seele zu einer immer reiferen Verbindung zu ihrem Schöpfer gelangt und auf dem sie mehr und mehr an moralischer Autonomie gewinnt, indem sie die animalischen Triebe der menschlichen Natur diszipliniert, ist keineswegs unvereinbar mit ihrer Rolle, hilfreiche Wegweisung anzubieten, wenn es darum geht, den Aufbau der Zivilisation zu fördern.
35 In dem Konzept der fortschreitenden Offenbarung wird größter Wert darauf gelegt, die Offenbarung Gottes immer dann anzuerkennen, wenn sie erscheint. Da die Mehrheit der Menschen dies versäumt hat, waren immer wieder ganze Völker dazu verurteilt, Gebote und Zeremonien gebetsmühlenartig zu wiederholen, noch lange nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten und nur noch den moralischen Fortschritt verkümmern ließen. Leider führte dieses Versäumnis in letzter Konsequenz dazu, heute die Religion lächerlich zu machen. Ausgerechnet in der Phase ihrer kollektiven Entwicklung, wo die Menschheit anfing, sich mit der Herausforderung der Moderne auseinanderzusetzen, wurde die geistige Quelle, von der Moral und Aufklärung abhingen, zu einer Zielscheibe des Spottes – zunächst bei den Entscheidungsträgern der Gesellschaft, und schließlich in ständig weiteren Kreisen der gesamten Bevölkerung. Da ist es nicht zu verwundern, dass dieser verheerendste Verrat am Vertrauen der Menschen im Laufe der Zeit die Grundlage des Glaubens selbst unterminieren sollte. So kommt es, dass Bahá’u’lláh wiederholt Seine Leser drängt, gründlich über die Lehre nachzudenken, die uns durch solche wiederholt auftretenden Versäumnisse erteilt wird. „Und nun denket eine Weile darüber nach, was wohl der Grund war, dass sie ... Ihn derart abwiesen...“21 „Was hat sie wohl veranlasst, Ihn zu verwerfen und zu meiden...?“22 „Was war wohl die Ursache dieses Streites...?“23 „Überlegt: was mögen ihre Motive gewesen sein...?“24
36 Noch schädlicher für das religiöse Verstehen war theologische Arroganz. Eine durchgängige Erscheinung in der Vergangenheit der Religion war die dominante Rolle, die der Klerus gespielt hat. Weil Heilige Texte fehlten, die eine unumstrittene institutionelle Autorität festlegen, beanspruchten klerikale Eliten erfolgreich die alleinige Kontrolle über die Interpretation der göttlichen Absicht. Wie unterschiedlich auch die Motive gewesen sein mögen, die tragische Folge war, dass der Fluss der Inspiration behindert und das selbständige Denken verhindert wurde. Das Augenmerk lag mehr auf rituellen Details und viel zu oft wurden Hass und Vorurteile gegenüber denen geschürt, die einem anderen konfessionellen Weg folgten als die selbsternannten geistlichen Führer. Nichts kann die schöpferische Kraft aufhalten, mit der Gott eingreift, um ein fortschreitend wachsendes Bewusstsein entstehen zu lassen, nichts kann Gott hindern, Sein Werk fortzusetzen. Doch das eigentlich Erreichbare wurde durch solche künstlich ersonnenen Hindernisse zu jeder Zeit mehr und mehr eingeengt.
37 Obwohl die offenbarten Lehren die Grundlage jeder Tradition sind, konnte die Theologie im Laufe der Zeit erfolgreich im Herzen jeder großen Religion ihre Autorität aufbauen – parallel zur Lehre und oft sogar entgegen deren Geist. Davon, und von den Folgen für die Gegenwart, spricht das bekannte Gleichnis Jesu von dem Landbesitzer, der Samen auf seine Felder aussäte: „Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon.“25 Als seine Diener vorschlugen, es auszureißen, antwortete der Landbesitzer: „Nein! Damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune.“26 Durchgängig verurteilt der Qur’án das geistige Unheil, das von diesen konkurrierenden Machtansprüchen herrührt: „Sprich: Siehe, mein Herr hat schändliche Taten verboten, was von ihnen offen und was verborgen ist; und auch die Sünde und die Gewaltanwendung ohne vorliegende Berechtigung, und auch, dass ihr Gott solche beigesellt, für die er keine Ermächtigung herabgesandt hat, und dass ihr über Gott das sagt, was ihr nicht wisst.“27 Für aufgeklärte Geister ist es der Gipfel der Ironie, dass ganze Generationen von Theologen, deren religiöse Verordnungen genau den Verrat darstellen, der in diesen Texten verurteilt wird, versucht haben, eben diese Warnung als Waffe zu benutzen, um jeden Protest gegen ihre Anmaßung göttlicher Autorität zu unterdrücken.
38 So erstarrte jede neue Stufe der sich immer weiter entfaltenden Offenbarung geistiger Wahrheit durch wortwörtliche Auslegung und durch Interpretationen, die man oft von Kulturen übernahm, die selbst moralisch am Ende waren: Vorstellungen physischer Auferstehung, von einem Paradies körperlicher Freuden, der Reinkarnation, pantheistischen Erscheinungen und dergleichen mehr. Was auch immer ihr Wert in den vergangenen Stadien der Entwicklung des Bewusstseins gewesen sein mag, heute entstehen dadurch Mauern der Trennung und Konflikte – und das zu einer Zeit, in der diese Erde buchstäblich ein Land geworden ist und die Menschen lernen müssen, sich selbst als dessen Bürger zu sehen. In diesem Zusammenhang kann man verstehen, warum Bahá’u’lláh so vehement vor den Hindernissen warnt, die dogmatische Theologie denen in den Weg legt, die danach trachten, Gottes Willen zu verstehen: „O ihr Schar der Geistlichen! Wägt Gottes Buch nicht mit Maßstäben und Wissenschaften, wie sie bei euch im Schwange sind. Denn das Buch selbst ist die untrügliche Waage, die unter den Menschen aufgestellt ist.“28 In Seinem Sendschreiben an Papst Pius IX teilt Er dem Pontifex mit, dass Gott in diesen Tagen „in den Gefäßen der Gerechtigkeit verwahrt“ was immer in der Religion bleibend sein soll und „ins Feuer geworfen [hat], was diesem verfallen ist.“29

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39 Befreit von dem Gestrüpp, mit dem Theologie das religiöse Verstehen eingeengt hat, ist der Geist nunmehr in der Lage, wohlbekannte Passagen aus den Heiligen Schriften mit den Augen Bahá’u’lláhs zu untersuchen. „Unvergleichlich ist dieser Tag“, stellt Er fest, „denn er ist wie das Auge für vergangene Zeitalter und Jahrhunderte und wie ein Licht in der Finsternis der Zeiten.“30 Aus dieser Perspektive fällt vor allem die Einheit in Absicht und Grundsatz ins Auge, eine Einheit, die besonders die hebräische Bibel, das Evangelium und den Qur’án durchzieht, obwohl auch in den Heiligen Schriften anderer Weltreligionen Anklänge davon leicht auszumachen sind. Immer wieder lassen sich in der Grundsubstanz aus Geboten, Ermahnungen, Erzählungen, Gleichnissen und Deutungen, in das sie eingebettet sind, die gleichen gestaltenden Themen erkennen. Von diesen grundlegenden Wahrheiten ist eine bei weitem am deutlichsten ausgeprägt: das ausdrückliche Bekenntnis der Einheit Gottes und das fortwährende Sprechen über Ihn, als den Schöpfer aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. „Ich bin der Herr“, verkündet die Bibel, „und sonst keiner mehr, kein Gott ist außer mir“,31 und den gleichen Grundsatz untermauern die späteren Lehren von Christus und Muhammad.
40 Die Menschheit – Kristallisationspunkt, Erbe und Treuhänderin der Welt – existiert, um ihren Schöpfer zu erkennen und Seiner Absicht zu dienen. In der Anbetung findet der Wunsch, darauf zu reagieren seine höchste Ausdrucksform. Anbetung ist eine Haltung, die mit ganzem Herzen zur Unterwerfung unter eine Kraft führt, von der man erkennt, dass sie solcher Huldigung würdig ist. „Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit!“32 Die Haltung der Ehrfurcht findet untrennbar ihren Ausdruck im Dienst am Plan Gottes mit der Menschheit. „Sprich: Die Huld liegt in der Hand Gottes, Er lässt sie zukommen, wem Er will. Gott umfasst und weiß alles.“33 Erleuchtet von diesem Verständnis, sind die Pflichten der Menschheit eindeutig: „Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Osten oder Westen wendet“, legt der Qur’án dar, „Frömmigkeit besteht darin, dass man an Gott ... glaubt, dass man aus Liebe zu Ihm den Verwandten, den Waisen, den Bedürftigen, dem Reisenden und den Bettlern Geld zukommen lässt ...“34 „Ihr seid das Salz der Erde“,35 prägt Christus denen ein, die Seinem Ruf folgen. „Ihr seid das Licht der Welt.“36 Der Prophet Micha fasst ein Thema zusammen, das immer wieder in der hebräischen Bibel auftaucht und danach ebenso im Evangelium und im Qur’án: „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“37
41 Übereinstimmend sagen alle diese Texte, dass die Fähigkeit der Seele, die Absicht ihres Schöpfers zu erkennen, nicht nur das Ergebnis eigenen Bemühens ist, sondern darin begründet liegt, dass Gott durch Sein Eingreifen den Weg dazu eröffnet hat. Mit einprägsamer Klarheit bringt Jesus das auf den Punkt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“38 Will man in dieser Aussage nicht nur eine dogmatische Herausforderung an andere Offenbarungsstufen innerhalb des einen fortschreitenden Prozesses göttlicher Führung sehen, dann drückt sich darin offensichtlich die zentrale Wahrheit offenbarter Religion überhaupt aus: Der Zugang zu der unerforschlichen Realität, die jede Existenz erschafft und erhält, ist nur möglich, indem man sich der Erleuchtung öffnet, die von diesem Reich ausgegossen wird. Eine der beliebtesten Suren des Qur’án verwendet die Metapher: „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. ... Licht über Licht. Gott führt zu Seinem Licht, wen Er will.“39 Im Falle der hebräischen Propheten nahm der göttliche Mittler – der später im Christentum in der Gestalt des Menschensohnes erscheinen sollte und im Islam als das Buch Gottes – die Form eines verbindlichen Bundes an, der von dem Schöpfer mit Abraham, dem Patriarchen und Propheten aufgerichtet wurde. „Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, dass es ein ewiger Bund sei, so dass ich dein und deiner Nachkommen Gott bin.“40
42 Die Kette der Offenbarungen des Göttlichen ist auf jeden Fall ein implizites – und üblicherweise explizites – Merkmal aller großen Religionen. Eine ihrer frühesten und eindeutigsten Darstellungen findet man in der Bhagavad-Gita: „Und doch entsteh’ ich oftmals neu durch meines Wesens Wunderkraft. Denn immer, wenn die Frömmigkeit hinschwinden will, o Bharata, Ruchlosigkeit ihr Haupt erhebt, dann schaffe ich mich selber neu. Zum Schutz der guten Menschen hier und zu der Bösen Untergang, die Frömmigkeit zu fest’gen neu, entsteh’ in jedem Weltenalter ich.“41 Dieses fortwährende Drama bildet das Grundgerüst der Bibel. In ihrer Sammlung von Büchern wird nicht nur die Sendung von Abraham und Mose erzählt, – „den der Herr erkannt hatte von Angesicht zu Angesicht“42 – sondern auch von der Reihe der kleinen Propheten, die das Werk, das die primären Urheber des Prozesses in Bewegung gebracht hatten, nun entwickelten und festigten. So konnte es den umstrittenen und wunderlichen Spekulationen über die Natur Jesu nicht gelingen, Seine Sendung von dem Werk Abrahams und Moses zu trennen, das den Lauf der Zivilisation verwandelte. Er selbst weist darauf hin, dass nicht Er es sein wird, der diejenigen verurteilt, die Seine Botschaft ablehnen, sondern Mose „auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“43 Mit der Offenbarung des Qur’án wird die Nachfolge der Boten Gottes zu einem zentralen Thema. „Wir glauben an Gott und an das, was zu uns herabgesandt wurde, und an das, was herabgesandt wurde zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob ... und an das, was Moses und Jesus zugekommen ist, und an das, was den [anderen] Propheten von ihrem Herrn zugekommen ist.“44
43 Was sich für einen verständigen und objektiven Leser solcher Passagen hier abzeichnet, ist eine Bestätigung der Einheit der Religionen. So bezeichnet der Begriff „Islam“ (wörtlich „Unterwerfung“ unter Gott) nicht nur den Abschnitt der Heilsgeschichte, der von Muhammad begonnen wurde, sondern, wie die Worte des Qur’án unmissverständlich klar machen, die Religion als solche. Auch wenn es richtig ist, von der Einheit aller Religionen zu sprechen, ist es von größter Wichtigkeit, den jeweiligen Kontext zu verstehen. Im tiefsten Grunde gibt es nur eine Religion, wie Bahá’u’lláh betont. Religion ist Religion und Wissenschaft ist Wissenschaft. Die eine erkennt und artikuliert die Werte, die sich durch göttliche Offenbarung fortschreitend entfalten; die andere ist das Instrument, durch das der menschliche Geist forscht und fähig wird, immer genauer auf die stoffliche Welt Einfluss zu nehmen. Die eine definiert die Ziele, die dem Entwicklungsprozess dienen, die andere fördert deren Umsetzung. Zusammen bilden sie ein zweigleisiges System des Wissens, das den Fortschritt der Kultur vorantreibt. Jede von ihnen wurde von dem Meister freudig begrüßt als „Erstrahlen der Sonne der Wahrheit.“45
44 Es hieße daher, die einzigartige Stufe von Mose, Buddha, Zoroaster, Jesus, Muhammad – oder von der Abfolge von Avataren, die die Schriften der Hindus inspirierten – zu verkennen, würde man ihr Werk als Ausgangspunkt eigenständiger Religionen ansehen. Eher wird man ihnen gerecht, wenn man sie als die geistigen Erzieher in der Geschichte versteht, als die belebenden Kräfte in dem Wachstumsprozess der Zivilisation, durch die das menschliche Bewusstsein aufgeblüht ist. „Er war in der Welt,“ erklärt das Evangelium, „und die Welt ist durch ihn gemacht...“46 Dass ihren Personen eine unendlich größere Ehrfurcht entgegengebracht wurde als jeder anderen historischen Gestalt, spiegelt den Versuch wider, die eigentlich unaussprechlichen Gefühle auszudrücken, die ihr Werk und seine Segnungen in den Herzen unzähliger Millionen von Menschen erweckt haben. Durch die Liebe zu ihnen hat die Menschheit zunehmend gelernt, was es heißt, Gott zu lieben. Es gibt realistischerweise keinen anderen Weg. Man ehrt sie nicht durch linkische Versuche, das Geheimnis ihrer Natur in Dogmen einzufangen, die allein menschlicher Vorstellungskraft entspringen; was sie ehrt, ist die bedingungslose Hingabe des eigenen Willens und der Seele an den verwandelnden Einfluss, der von ihnen ausgeht.

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45 Allgemeine Verwirrung herrscht darüber, welche Rolle die Religion bei der Kultivierung des moralischen Bewusstseins spielt, und wie man ihren Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft einschätzen soll. Das vielleicht offensichtlichste Beispiel dafür ist der untergeordnete Status, den die meisten heiligen Texte den Frauen zuweisen. Auch wenn die Vorteile, die Männer daraus ziehen konnten, ohne Zweifel bedeutenden Anteil an der Verfestigung dieses Konzepts hatten, seine moralische Rechtfertigung ließ sich fraglos aus dem Schriftverständnis selbst herleiten. Bis auf wenige Ausnahmen richten sich diese Texte an Männer und weisen den Frauen eine unterstützende und untergeordnete Rolle im Leben von Religion wie Gesellschaft zu. Leider machte ein solches Verständnis es erschreckend leicht, die Hauptschuld für ein fehlendes Zügeln sexueller Impulse, einem grundlegenden Element moralischer Entwicklung, den Frauen anzulasten. Aus moderner Sicht ist es leicht, solche Einstellungen als voreingenommen und ungerecht zu erkennen. In der jeweiligen Phase sozialer Entwicklung, in der die großen Religionen entstanden, suchten die Heiligen Schriften vor allem historisch gewachsene Verhältnisse so weit wie möglich zu zivilisieren. Es ist leicht einzusehen, dass heute ein Festhalten an primitiven Normen den eigentlichen Sinn dieser langwierigen Kultivierung des Moralempfindens durch die Religion zunichte machen würde.
46 Ähnliche Überlegungen betreffen die Beziehungen zwischen den Völkern. Die lange und beschwerliche Vorbereitung des Hebräischen Volkes auf die Aufgabe, die es zu erfüllen hatte, illustriert die Komplexität der damit verbundenen moralischen Herausforderungen und wie viele Widerstände ihnen entgegengebracht wurden. Damit die geistigen Fähigkeiten, um die sich die Propheten bemüht hatten, erwachen und erblühen konnten, musste den Verlockungen benachbarter Kulturen, die Götzen dienten, um jeden Preis widerstanden werden. Die Beschreibungen angemessener Strafen in der Heiligen Schrift, die über die Herrscher wie ihre Untergebenen hereinbrechen, sollten sie diese Prinzipien verletzen, verdeutlichen, welch ein großes Gewicht im göttlichen Plan darauf gelegt wurde. Damit in etwa vergleichbar ist der Kampf der von Muhammad gestifteten Gemeinde, gegen die Versuche heidnischer arabischer Stämme, sie zu vernichten – und in der barbarischen Grausamkeit und dem unbarmherzigen Geist der Blutrache, der die Angreifer beseelte. Niemand, der mit den historischen Details vertraut ist, wird Schwierigkeiten haben, die Härte der diesbezüglichen Bestimmungen des Qur’án zu verstehen. Während der monotheistische Glaube der Juden und Christen respektiert werden sollte, wurde Götzendienst kompromisslos abgelehnt. In relativ kurzer Zeit gelang es durch diese drakonische Regel die Stämme der arabischen Halbinsel zu vereinigen und die neu geformte Gemeinschaft in eine Epoche des moralischen, intellektuellen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfolges zu führen, der sich gut über fünf Jahrhunderte erstreckte und in Geschwindigkeit und Umfang seiner Ausbreitung bis heute unübertroffen ist. Die Geschichte neigt dazu, ein strenger Richter zu sein. Letztendlich wird sie in ihrer kompromisslosen Sichtweise denen, die solche Unternehmungen blindlings im Keim ersticken wollten, entgegenhalten, welchen Nutzen die Welt aus dem Siegeszug der biblischen Vision menschlicher Möglichkeiten hatte und aus dem Fortschritt, der durch den Genius der islamischen Zivilisation entstand.
47 Zu den umstrittensten Fragen bei der Entwicklung einer Gesellschaft zu geistiger Reife gehört die Bestrafung von Verbrechen. Wenn sie sich auch im Detail und im Grad unterscheiden, so erscheinen doch die Strafen, die in den meisten heiligen Texten bei Verletzungen gegen das Gemeinwohl oder die Rechte Einzelner vorgeschrieben sind, als sehr hart. Zudem wurde häufig auch Vergeltung gegen die Täter durch die geschädigte Partei oder deren Familienmitglieder zugelassen. Aus historischer Sicht muss man jedoch vernünftigerweise fragen, welche praktikable Alternative denn bestanden hätte. Es gab weder Programme für Verhaltenstherapie, wie sie heute zur Verfügung stehen, man konnte nicht einmal auf Einrichtungen wie Gefängnisse oder Polizeibehörden zurückgreifen. Es war die Aufgabe der Religion, in das allgemeine Bewusstsein unauslöschlich einzuprägen, dass Handlungsweisen – und ganz konkret auch deren Kosten – völlig unakzeptabel sind, die dazu führen, das Bemühen um sozialen Fortschritt zu untergraben. Die Zivilisation insgesamt hat seitdem davon profitiert, und es wäre unredlich, das nicht anzuerkennen.
48 So war es durchweg bei allen Abschnitten der Heilsgeschichte, deren Ursprünge schriftlich belegt sind. Bettelei, Sklaverei, Autokratie, Eroberung, ethnische Vorurteile und andere nicht wünschenswerte Erscheinungen sind unbehelligt geblieben – oder wurden eindeutig mit Nachsicht behandelt – weil die Religion vor allem bemüht war, solche Veränderungen im Verhalten zu erzielen, die zum gegebenen Zeitpunkt wesentlicher erschienen. Religion zu verurteilen, weil es in irgendeinem der aufeinander folgenden Abschnitte der Heilsgeschichte nicht gelang, die ganze Palette sozialen Unrechts anzugehen, hieße, alles zu ignorieren, was man über die Natur menschlicher Entwicklung gelernt hat. Unvermeidlich, dass anachronistisches Denken dieser Art auch starke psychologische Behinderungen im Wahrnehmen und Begegnen mit den Herausforderungen der eigenen Zeit entstehen lassen musste.
49 Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern um die Auswirkungen für die Gegenwart. Probleme entstehen immer dann, wenn Anhänger einer der großen Religionen sich als unfähig erweisen, zwischen den unvergänglichen und den vergänglichen Merkmalen ihrer Religion zu unterscheiden und versuchen, der Gesellschaft Verhaltensregeln aufzubürden, die schon vor Langem ihren Zweck erfüllt hatten. Das Prinzip ist fundamental für ein Verständnis der sozialen Aufgabe der Religion: „Das Heilmittel, dessen die Welt in ihren gegenwärtigen Nöten bedarf, kann nicht das gleiche sein, das ein späteres Zeitalter erfordern mag“, legt Bahá’u’lláh dar. „Befasst euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt, und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse.“47

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50 Die Gebote der neuen Epoche menschlicher Erfahrungen, zu denen Bahá’u’lláh die politischen und religiösen Führer der Welt des 19. Jahrhunderts aufforderte, sind jetzt im Wesentlichen von deren Nachfolgern und von fortschrittlichen Denkern überall auf der Welt, zumindest als Ideale akzeptiert. Als das 20. Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, sind Prinzipien, die nur wenige Dekaden zuvor noch als überspannt und hoffnungslos unrealistisch abgetan worden waren, ins Zentrum globaler Auseinandersetzungen gerückt. Diese Prinzipien leiten, gestützt durch Entdeckungen wissenschaftlicher Forschung und die Erkenntnisse einflussreicher Gremien – die oft finanziell sehr großzügig ausgestattet sind – die Arbeit maßgeblicher Kommissionen auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene. Umfangreiche wissenschaftliche Werke in zahlreichen Sprachen widmen sich dem Erforschen praktikabler Wege zu deren Umsetzung, und solche Programme können sich der Aufmerksamkeit der Medien von fünf Kontinenten erfreuen.
51 Die meisten dieser Prinzipien werden aber leider nicht nur von ausgesprochenen Gegnern des sozialen Friedens missachtet, sondern auch von Kreisen, die sich angeblich für sie einsetzen. Was fehlt, sind nicht überzeugende Beweise für ihre Bedeutung, sondern die Kraft moralischer Überzeugung, die in der Lage wäre, sie umzusetzen, eine Kraft, deren einzige verlässliche Quelle in der Geschichte nachweislich religiöser Glaube gewesen ist. Selbst zu der Zeit, als Bahá’u’lláhs Sendung begann, hatte religiöse Autorität immer noch erheblichen sozialen Einfluss. Als die christliche Welt sich veranlasst sah, mit einer Jahrtausende alten nicht hinterfragbaren Überzeugung zu brechen und das Übel der Sklaverei endlich anzupacken, waren es biblische Ideale, auf die sich die frühen britischen Reformer zu berufen suchten. Folglich mahnte der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner entscheidenden Rede über die zentrale Rolle, die dieses Thema in dem großen amerikanischen Konflikt spielte, dass selbst, wenn „wie vor dreitausend Jahren verkündet wurde, jeder Tropfen Blut, den die Peitsche gefordert hat, durch anderes Blut bezahlt werden muss, welches das Schwert fordert, dann muss dennoch gesagt werden: ,Das Urteil des Herrn ist wahr und gerecht.‘“48 Diese Ära ging jedoch schnell zu Ende. In den Umbrüchen, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, zeigte sich sogar eine so einflussreiche Person wie Mohandas Gandhi nicht in der Lage, die geistige Kraft des Hinduismus zu mobilisieren, um die religiöse Gewalt auf dem indischen Subkontinent zu beenden. Die Führer des islamischen Bevölkerungsteils waren in dieser Hinsicht auch nicht erfolgreicher. Wie in der metaphorischen Vision von dem „Tag, an dem Wir den Himmel zusammenfalten, wie der Urkundenschreiber die Schriftstücke zusammenfaltet“49 im Qur’án prophezeit, hat die einstmals unanfechtbare Autorität der traditionellen Religionen aufgehört, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu bestimmen.
52 In diesem Kontext beginnt man die Bilder zu schätzen, mit denen Bahá’u’lláh den Willen Gottes für ein neues Zeitalter beschreibt. „Wähnt nicht, Wir hätten euch nur ein Gesetzbuch offenbart. Nein, Wir haben den erlesenen Wein mit den Fingern der Macht und Kraft entsiegelt.“50 Durch Seine Offenbarung werden die Prinzipien, die für das kollektive Erwachsenwerden der Menschheit erforderlich sind, mit der einen Kraft versehen, die geeignet ist, bis in die Wurzeln menschlicher Motivation einzudringen und das Verhalten zu verändern. Für den, der Ihn erkannt hat, ist die Gleichheit von Mann und Frau nicht ein soziologisches Postulat, sondern offenbarte Wahrheit über die Natur des Menschen, mit Auswirkungen auf alle Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen. Das gleiche gilt für Seine Lehre über das Prinzip der Einheit aller Völker, Bildung für alle, die Freiheit des Denkens, der Schutz der Menschenrechte, das Postulat, die gewaltigen Ressourcen der Erde treuhänderisch für die gesamte Menschheit verwalten, die Verantwortlichkeit der Gesellschaft für das Wohlergehen ihrer Bürger, die Förderung wissenschaftlicher Forschung, selbst so praktische Konzepte, wie eine internationale Hilfssprache, die eine Vereinigung der Völker der Erde fördern soll – für alle, die Bahá’u’lláhs Offenbarung annehmen, haben diese und ähnliche Grundsätze die gleiche zwingende Autorität, wie die Verbote von Götzendienst, Diebstahl und falschem Zeugnis in der Heiligen Schrift. Während einige dieser neuen Konzepte andeutungsweise in den früheren Heiligen Schriften zu finden sind, konnten sie erst zu einem Zeitpunkt klar definiert und verordnet werden, als die zahllosen Völker dieses Planeten in der Lage waren, sich gemeinsam als eine Menschheit zu entdecken. Durch die geistige Ermächtigung, die Bahá’u’lláhs Offenbarung gebracht hat, wird es möglich, die göttlichen Normen nicht als singuläre Prinzipien und Gesetze zu verstehen, sondern als Facetten einer einzigen, allumfassenden Vision der menschlichen Zukunft, die in ihrer Zielsetzung revolutionär ist und mitreißend in den Möglichkeiten, die sie eröffnet.
53 Fester Bestandteil dieser Lehren sind Prinzipien zur Regelung gesellschaftlicher Fragen. Eine oft zitierte Passage in Bahá’u’lláhs Tafel an Königin Victoria bringt ein bewegendes Lob über die demokratische und konstitutionelle Regierungsform zum Ausdruck, aber auch die Ermahnung, den Kontext der globalen Verantwortung zu sehen, in dem dieses Konzept betrachtet werden muss, wenn es seinen Zweck in diesem Zeitalter erfüllen soll: „O ihr gewählten Vertreter des Volkes in allen Ländern! Beratet miteinander und lasst euch nur das angelegen sein, was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert – so ihr zu denen gehört, die achtsam prüfen! Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Leib, der bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, jedoch aus vielerlei Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen wurde. Nicht einen Tag lang wurde ihm Linderung zuteil, nein, seine Krankheit verschlimmerte sich noch, weil er in die Hände unwissender Ärzte fiel, die sich nur von ihren persönlichen Wünschen leiten ließen und sich schmählich irrten. Und wurde einmal ein Organ von einem fähigen Arzt geheilt, so blieb doch der Rest so krank wie zuvor.“51 In anderen Passagen erklärt Bahá’u’lláh sehr genau einige der praktischen Auswirkungen. Die Regierungen der Welt sind aufgerufen, eine internationale beratende Körperschaft zu errichten als Fundament für ein „Weltbundsystem“52, das ermächtigt ist, die Unabhängigkeit und das Territorium ihrer Mitgliedsstaaten zu sichern, nationale und regionale Streitigkeiten zu lösen und Programme zu koordinieren, die der globalen Entwicklung zum Wohle der gesamten Menschheit dienen. Bezeichnenderweise spricht Bahá’u’lláh diesem System das Recht zu, einen Staat zu zwingen, Akte der Aggression gegen einen anderen Staat zu beenden. An die Herrscher Seiner Zeit gerichtet, betont Er die eindeutige moralische Autorität solchen Handelns: „Wenn einer von euch gegen einen anderen zu den Waffen greift, so erhebt euch allesamt gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.“53

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54 Die Kraft, durch die diese Ziele nach und nach verwirklicht werden, ist die Einheit. Obwohl die Einheit für die Bahá’í die offensichtlichste aller Wahrheiten ist, scheint den meisten zeitgenössischen Debatten ihre Bedeutung für die gegenwärtige Krise der Zivilisation zu entgehen. Wenige werden der Auffassung widersprechen, dass Uneinigkeit die Krankheit ist, die die Gesundheit der gesamten Menschheit auslaugt. Überall schwächt sie den politischen Willen, entkräftet den gemeinsamen Wunsch zur Veränderung und vergiftet nationale und religiöse Beziehungen. Zwar wird Einheit als ein erstrebenswertes Ziel erkannt, das aber, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft, nach der Bewältigung einer Vielzahl von Problemen sozialer, politischer, ökonomischer und moralischer Art realisiert werden könnte. Doch diese vielfältigen Probleme sind nur Symptome und Nebenwirkungen, nicht die zugrunde liegende Ursache. Wie kommt es, dass eine so fundamentale Umkehrung von Ursache und Wirkung allgemein akzeptiert wird? Vermutlich deshalb, weil man denkt, es sei jenseits aller Möglichkeiten der derzeitigen gesellschaftlichen Institutionen, eine echte Einheit mit Herz und Verstand zwischen den Menschen zu erreichen, da deren Erfahrungen derart unterschiedlich geprägt sind. Einerseits stellt dieses stillschweigende Zugeständnis einen begrüßenswerten Fortschritt dar, im Vergleich dazu, wie man noch wenige Dekaden zuvor den Prozess sozialer Entwicklung verstand. Auf der anderen Seite bietet es kaum praktische Hilfe für den Umgang mit dieser Herausforderung.
55 Einheit ist eine Beschaffenheit des menschlichen Geistes. Erziehung kann sie unterstützen und fördern, ebenso die Gesetzgebung. Aber beide können das erst tun, sobald die Einheit sich herausbildet und sich als überzeugende Kraft im gesellschaftlichen Leben etabliert hat. Kaum jemand bezweifelt, dass sich für die Zukunft der Menschheit Katastrophen bedrohlich abzeichnen. Doch die Intellektuellen, deren Konzepte weitgehend von einer materialistischen Fehleinschätzung der Realität geformt wurden, klammern sich weltweit hartnäckig an die Hoffnung, dass einfallsreiche Sozialtechniken, gestützt von politischen Kompromissen in der Lage seien, diese Katastrophen auf ewig hinauszuschieben. „Wir nehmen sehr wohl wahr, wie das ganze Menschengeschlecht von großen, unberechenbaren Drangsalen umgeben ist“, legt Bahá’u’lláh dar. „Jene, die von Eigendünkel trunken sind, haben sich zwischen die Menschen und den göttlichen unfehlbaren Arzt gedrängt. Sieh, wie sie alle Menschen, sich selbst eingeschlossen, in das Netzwerk ihrer List verstrickt haben. Sie können weder die Ursache der Krankheit erkennen, noch haben sie die geringste Kenntnis von der Arznei.“54 Da Einheit die Arznei für die Krankheit der Welt ist, liegt ihre einzige sichere Quelle darin, den Einfluss der Religion auf die menschlichen Belange wieder erstehen zu lassen. Die an diesem Tag von Gott offenbarten Gesetze und Prinzipien, erklärt Bahá’u’lláh, „sind die machtvollsten Werkzeuge und die sichersten Mittel dafür, dass das Licht der Einheit zwischen den Menschen anbricht.“55 „Was immer auf dieser Grundlage errichtet ist, dessen Stärke können Wandel und Wechsel der Welt nie beeinträchtigen, noch wird der Ablauf zahlloser Jahrhunderte seinen Bau untergraben.“56
56 Daher war es für die Sendung Bahá’u’lláhs von zentraler Bedeutung, eine weltweite Gemeinschaft zu gründen, die die Einheit der Menschheit wiederspiegeln würde. Das nachdrücklichste Zeugnis, das die Bahá’í-Gemeinde zur Rechtfertigung Seiner Sendung vorführen kann, ist das Beispiel der Einheit, die Seine Lehre bewirkt hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Bahá’ítum ein Phänomen, das sich mit nichts vergleichen lässt, was die Welt bislang gesehen hat. Nach Jahrzehnten der Anstrengung, in denen Wellen des Wachstums sich abwechselten mit langen Phasen der Festigung, oft überschattet von Rückschlägen, umfasst die Bahá’í-Gemeinde heute etliche Millionen Menschen, die nahezu jede ethnische, kulturelle, soziale und religiöse Herkunft repräsentieren. Was sie gemeinsam betrifft regeln sie ohne die Intervention eines Klerus, alleine durch demokratisch gewählte Institutionen. Die vielen tausend Orte, an denen sie Wurzeln geschlagen haben, sind in jedem Land, Territorium und jeder bedeutenden Inselgruppe zu finden, von der Arktis bis zur Tierra del Fuego, von Afrika bis zum Pazifik. Kaum jemand, der mit den Fakten vertraut ist, wird bezweifeln, dass diese Gemeinschaft schon heute die facettenreichste und geografisch am weitesten verbreitete von allen ähnlich organisierten Institutionen von Menschen auf diesem Planeten ist.
57 Dies verlangt nach einer Erklärung. Nichts von den üblichen Erklärungsmustern, wie etwa Reichtum, Unterstützung durch mächtige politische Interessen, der Rückgriff auf verdeckte oder offensive Bekehrungsprogrammen, die mit der Furcht vor göttlichem Zorn arbeiten, haben die geringste Rolle bei diesen Ereignissen gespielt. Die Anhänger des Glaubens an Bahá’u’lláh verstehen sich als Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie. Diese Identität bildet den Sinn ihres Lebens und ist keineswegs Ausdruck eines Anspruchs auf moralische Überlegenheit. „O Volk Bahás! Dass es keinen gibt, mit euch in Wettstreit zu treten, ist ein Zeichen der Barmherzigkeit.“57 Ein unvoreingenommener Beobachter wird nicht umhin können, zumindest die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass dieses Phänomen auf das Wirken von Einflüssen zurückzuführen ist, die sich ihrer Natur nach völlig von dem unterscheiden, was üblicherweise geschieht – Einflüsse, die man nur als geistig bezeichnen kann – und die geeignet sind, Menschen jedweder Herkunft zu Verständnis und außerordentlicher Opferbereitschaft zu befähigen.
58 Besonders beeindruckend ist die Tatsache, dass der Bahá’í-Glaube in der Lage war, die so erlangte Einheit unversehrt und unvermindert während allen Phasen seiner Frühgeschichte zu bewahren, war die Einheit doch gerade da sehr gefährdet. Man wird vergeblich nach einer anderen Vereinigung von Menschen suchen – sei sie politisch, religiös oder sozial orientiert – die erfolgreich dem ständigen Pesthauch von Schisma und Aufsplitterung standgehalten hat. Die Bahá’í-Gemeinde bildet in all ihrer Vielfalt eine Einheit von Menschen, die eins sind: eins in ihrem Verständnis der Absicht der göttlichen Offenbarung, die sie ins Leben rief; eins in ihrer Hingabe an eine Gemeindeordnung, die ihr Stifter zur Regelung ihrer gemeinschaftlichen Aufgaben schuf; eins im Einsatz für die Verbreitung Seiner Botschaft überall auf dem Planeten. Während der vergangenen Jahrzehnte taten etliche Persönlichkeiten, einige von ihnen hochgestellt, alle angespornt von Ehrgeiz, ihr Äußerstes, um Anhänger zu gewinnen, die loyal zu ihnen bzw. zu ihrer persönlichen Interpretation der Schriften Bahá’u’lláhs standen. In früheren Religionen hatten ähnliche Bemühungen dazu geführt, den gerade entstandenen Glauben in konkurrierende Sekten aufzuspalten. Im Falle des Bahá’ítums jedoch sind solche Intrigen ohne Ausnahme gescheitert und konnten nicht mehr erreichen als das Aufflackern vorübergehender Kontroversen. Deren einziger Effekt bestand darin, das Verständnis der Gemeinde über die Absicht ihres Stifters und ihre Hingabe an Ihn zu vertiefen. „So machtvoll ist das Licht der Einheit“, versichert Bahá’u’lláh denen, die Ihn anerkennen, „dass es die ganze Erde erleuchten kann.“58 Die menschliche Natur ist, wie sie ist. Daher kann man bereitwillig die Erwartung des Hüters teilen, dass dieser Reinigungsvorgang sich lange hinziehen wird, der – paradoxer-, aber notwendigerweise – für den Reifeprozess der Bahá’í-Gemeinde unverzichtbar ist.

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59 Die Preisgabe des Glaubens an Gott schwächte logischerweise die Fähigkeit, die Problematik des Bösen effektiv anzugehen oder in vielen Fällen sogar, sie überhaupt zu erkennen. Während die Bahá’í dem Phänomen des Bösen nicht die objektive Existenz zuschreiben, die ihm in früheren Stadien der Religionsgeschichte verliehen wurde, lähmt die Verneinung des Guten – was das Böse ja eigentlich ist –, wie etwa Finsternis, Unwissenheit oder Krankheit, nachhaltig. Es gibt kaum einen Verlag, der in seinen Neuerscheinungen dem gebildeten Leser nicht eine Reihe von neuen und einfallsreichen Analysen über den Charakter einiger der monströsen Gestalten anbietet, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts systematisch Millionen ihrer Mitmenschen gequält, erniedrigt und ausgerottet haben. Untermauert durch wissenschaftliche Werke werden wir aufgefordert, darüber nachzudenken, welchen Stellenwert man wahlweise dem Missbrauch durch den Vater, sozialer Ausgrenzung, berufliche Diskriminierung, Armut, Unrecht, Kriegserlebnissen, möglichen genetischen Schäden, nihilistischen Schriften – oder den zahllosen sich daraus ergebenden Kombinationen – beimessen sollte, wenn man die Besessenheit verstehen will, die den anscheinend bodenlosen Hass gegen die Menschheit schürt. Deutlich vermissen lassen solche zeitgenössischen Spekulationen jeden Hinweis darauf, was erfahrene Kommentatoren noch vor hundert Jahren als spirituelle Krankheit verstanden hätten, egal mit welchen Begleiterscheinungen sie auftritt.
60 Wenn Einheit tatsächlich der Lackmustest für den menschlichen Fortschritt ist, werden weder die Geschichte noch der Himmel denen bereitwillig vergeben, die mit voller Absicht beschließen, ihre Hand gegen sie zu erheben. Indem sie vertrauen, reduzieren Menschen ihre abwehrbereite Wachsamkeit und öffnen sich für andere. Ohne Vertrauen kann man sich niemals mit ganzem Herzen für die gemeinsamen Ziele einsetzen. Nichts ist so verheerend, als zu entdecken, dass für die andere Seite Verpflichtungen, die man in gutem Glauben getroffen hatte, nur dem eigenen Vorteil dienten und ein Mittel waren, um heimliche Ziele zu erreichen, die sich von dem unterscheiden oder sogar dem widersprechen, was man angeblich gemeinsam anstrebte. Ein solcher Verrat ist ein durchgängiges Muster in der Geschichte der Menschheit. Den wohl frühesten schriftlichen Niederschlag findet er in der uralten Erzählung von der Eifersucht Kains auf seinen Bruder, weil Gott beschlossen hatte, dessen Glauben zu bestätigen. Wenn das schreckliche Leid, das die Völker der Erde während des 20. Jahrhunderts erdulden mussten, eine Lektion gelehrt hat, dann die, dass Uneinigkeit, die aus dunkler Vergangenheit übernommen wurde und die Beziehungen in allen Lebensbereichen vergiftete, Tür und Tor öffnen kann für ein teuflisches Verhalten, brutaler als alles, was man jemals für möglich gehalten hatte.
61 Wenn das Böse einen Namen hat, dann ist es die bewusste Verletzung der mühsam errungenen Verträge für Frieden und Aussöhnung, durch welche die Menschen guten Willens der Vergangenheit zu entkommen suchen und gemeinsam eine neue Zukunft gestalten wollen. Seiner wahren Natur nach erfordert Einheit Selbstaufopferung. „Eigenliebe“, stellt der Meister fest, „ist in jenen Klumpen Lehm, aus dem der Mensch gemacht ist, hineingeknetet.“59 Das Ego, das Er das „beharrende Selbst“60, nennt, widersteht instinktiv Beschränkungen, die seine Freiheit seiner Meinung nach beschneiden. Um bereitwillig auf die Befriedigung zu verzichten, die das Ego gewährt, wenn man ihm nachgibt, muss das Individuum zu der Überzeugung gelangen, dass die Erfüllung andernorts zu finden ist. Letztendlich liegt sie, wo sie immer war, in der Unterwerfung der Seele unter Gott.
62 Immer wenn die Menschen sich in den vergangenen Jahrhunderten der Herausforderung einer solchen Unterwerfung nicht gestellt haben, äußerte sich das mit besonders verheerenden Konsequenzen im Verrat an den Boten Gottes und den Idealen, die sie lehrten. Diese Erörterung ist nicht der Platz für einen Überblick über das Wesen und die Bestimmungen des speziellen Bundes, durch den Bahá’u’lláh erfolgreich die Einheit derer bewahrt, die Ihn erkannt haben und Seinen Zielen dienen. Man muss sich nur die strenge Sprache vor Augen führen, die Er für das bewusste Verletzen des Bundes durch diejenigen wählt, die gleichzeitig vorgeben, Ihm zu dienen: „Die, die sich davon abgewandt haben, gehören zu den Bewohnern des untersten Feuers in der Sicht Gottes, des Allmächtigen, des Ungezwungenen.“61 Der Grund für die Härte des Urteils liegt auf der Hand. Nur wenige Menschen haben Schwierigkeiten, die Gefahr für das Gemeinwohl zu erkennen, die durch Verbrechen wie Mord, Raub oder Betrug entsteht, oder leugnen die Notwendigkeit, dass die Gesellschaft zu wirkungsvollen Maßnahmen des Selbstschutzes greift. Wie aber sollen Bahá’í über eine Widersetzlichkeit denken, die, bliebe sie unkontrolliert, alle Möglichkeiten zerstören würde, die lebensnotwendig sind, Einheit zu erschaffen – die, in den kompromisslosen Worten des Meisters, „wie eine Axt dem Gesegneten Baum an die Wurzel gehen“62 würde? Das ist keine Frage intellektueller Unstimmigkeit, nicht einmal moralischer Schwäche. Viele Men
schen tun sich schwer, eine irgendwie geartete Autorität über sich anzuerkennen. Eher sind sie bereit, die Umstände zu meiden, die dies erforderlich machen würden. Personen, die sich zum Bahá’í-Glauben hingezogen fühlen und sich entscheiden, aus welchen Gründen auch immer, ihn zu verlassen, können dies völlig ungehindert tun.
63 Bundesbruch ist etwas völlig anderes. Diejenigen, die unter seinem Einfluss stehen, bewegt nicht einfach der Wunsch, völlig frei irgend einen Weg einzuschlagen, von dem sie glauben, dass er in der Lage ist, zur persönlichen Erfüllung zu führen oder einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Eher sind solche Menschen von einer unbändigen Entschlossenheit getrieben, ihren Willen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Gemeinschaft aufzuzwingen, ohne Rücksicht auf den Schaden, den sie dadurch anrichten. Auch fehlt ihnen oft der Respekt vor den erhabenen Aufgaben, denen sie sich angeschlossen haben, indem sie Mitglieder dieser Gemeinde wurden. Am Ende wird das Selbst zur vorrangigen Autorität, nicht nur für das eigene Leben, sondern für das Leben der anderen Menschen, die es erfolgreich beeinflussen kann. Wie lange und tragische Erfahrungen nur allzu deutlich gezeigt haben, können Qualitäten, wie hervorragende Abstammung, Intellekt, Bildung, Frömmigkeit oder Führungsqualitäten nicht nur der Menschheit, sondern auch dem eigenen Ehrgeiz dienen. In vergangenen Zeiten, als für den Plan Gottes andere geistige Schwerpunkte im Mittelpunkt standen, konnten die Folgen einer solchen Rebellion die zentrale Botschaft keiner der aufeinander folgenden Offenbarungen Gottes zunichte machen. Heute, mit den unermesslichen Möglichkeiten und erschreckenden Gefahren, die eine technologische Vereinigung des Planeten mit sich gebracht hat, wird der Einsatz für alles, was der Einheit dient, zum Prüfstein aller Bekenntnisse der Hingabe an den Willen Gottes oder, wenn man so will, der Hingabe für das Wohlergehen der Menschheit.

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64 Alles, was in seiner Vergangenheit geschehen ist, hat das Bahá’ítum befähigt, die Herausforderungen anzugehen, die ihm begegnen. Sogar in diesem relativ frühen Stadium seiner Entwicklung – und mit seinen derzeit noch relativ beschränkten Ressourcen – verdient das Vorhaben der Bahá’í völlig zu Recht die Achtung, die es derzeit gewinnt. Um anzuerkennen, was erreicht wird, muss der Betrachter nicht den Anspruch auf einen göttlichen Ursprung akzeptieren. Selbst wenn man die Bahá’í-Gemeinde nur als ein diesseitiges Phänomen betrachtet, rechtfertigen ihr Wesen und ihre Leistungen aus sich heraus die Aufmerksamkeit von allen, die sich ernsthaft mit der Krise der Zivilisation beschäftigen. All das beweist nämlich, dass die Völker der Welt in all ihrer Verschiedenartigkeit lernen können, als ein einziges Volk in einem einzigen globalen Heimatland zu leben und zu arbeiten und ihre Erfüllung zu finden.
65 Diese Tatsache unterstreicht, falls man das noch betonen muss, die Dringlichkeit der aufeinanderfolgenden Pläne, die das Universale Haus der Gerechtigkeit für die Ausbreitung und Festigung des Glaubens entworfen hat. Der Rest der Menschheit kann mit jedem Recht der Welt erwarten, dass eine Gruppe von Menschen, die sich wirklich der Vision der Einheit verpflichtet fühlen, wie sie sich in den Schriften Bahá’u’lláhs verkörpert, sich immer stärker an Programmen zur Verbesserung der Gesellschaft beteiligt. Vor allem, wenn es sich um solche Programme handelt, deren Erfolg gerade von der Kraft der Einheit abhängt. Die Antwort auf diese Erwartung macht es erforderlich, dass die Bahá’í-Gemeinde in einem immer schnelleren Tempo wächst, menschliche und materielle Ressourcen, die in ihre Arbeit investiert werden, stark vermehrt und weiterhin die Auswahl der Talente breit fächert, die sie dazu befähigt, ein interessanter Partner für gleichgesinnte Organisationen zu sein. Mit den sozialen Zielen dieses Bemühens muss die Anerkennung der Sehnsucht von Millionen ebenso aufrichtiger Menschen einhergehen, die bis jetzt noch nichts von Bahá’u’lláhs Sendung gehört haben, aber von vielen ihrer Ideale inspiriert sind, die Sehnsucht nach einer Möglichkeit, ihr Leben einem Dienst zu widmen, der einen bleibenden Sinn hat.
66 Die Kultur des systematischen Wachstums, die gerade in der Bahá’í-Gemeinde Wurzel schlägt, scheint die bei weitem wirkungsvollste Antwort zu sein, die die Freunde auf die Herausforderungen, die auf diesen Seiten diskutiert wurden, geben können. Die Erfahrung eines intensiven und fortwährenden Eintauchens in das Schöpferische Wort befreit nach und nach aus dem Griff materialistischer Hypothesen, die Bahá’u’lláh „Andeutungen der Verkörperungen satanischer Wahngebilde“63 nennt. Sie durchziehen die Gesellschaft und lähmen alle Impulse zum Umbruch. Ein solches Eintauchen erschließt in jedem die Fähigkeit, die Sehnsucht von Freunden und Bekannten nach Einheit zu fördern und in reifer und intelligenter Form zum Ausdruck zu bringen. Die Kernaktivitäten des gegenwärtigen Planes, Kinderklassen, Andachtsversammlungen und Studienkreise, ermöglichen einer wachsenden Anzahl von Personen, die sich noch nicht als Bahá’í verstehen, frei und ungezwungen an dem Prozess teilzuhaben. Daraus ist etwas entstanden, was treffend als eine „Interessengemeinschaft“ bezeichnet wurde. Während andere von der Teilnahme profitieren und dazu gelangen, sich mit den Zielen der Sache Bahá’u’lláhs zu identifizieren, hat sich gezeigt, dass sie gleichermaßen geneigt sind, sich ganz an Bahá’u’lláh zu binden und aktive Vermittler Seiner Absicht zu werden. Folglich bietet die uneingeschränkte Unterstützung des Plans – von dessen konkreten Zielen einmal abgesehen – für die Bahá’í-Gemeinde die Möglichkeit, sich in deutlich stärkerem Maße an der öffentlichen Debatte zu dem heute wohl wichtigsten Thema zu Wort zu melden.
67 Wenn die Bahá’í Bahá’u’lláhs Auftrag erfüllen wollen, ist es für sie entscheidend, zu verstehen, dass die parallel laufenden Bemühungen, die Verbesserung der Gesellschaft zu fördern und den Bahá’í-Glauben zu lehren, keine konkurrierenden Themen sind. Viel eher sind sie Teile eines zusammenhängenden globalen Programms, die sich gegenseitig befruchten. Unterschiede in der Vorgehensweise werden hauptsächlich durch die verschiedenen Bedürfnisse und die unterschiedlichen Stadien der Fragestellung bestimmt, die die Freunde vorfinden. Weil der freie Wille ein ureigenes Merkmal der Seele ist, muss jede Person, die sich hingezogen fühlt, die Lehren Bahá’u’lláhs zu erforschen, ihren eigenen Platz auf dem nie endenden Feld der geistigen Suche finden. Es ist nötig, dass sie in der Ungestörtheit ihres eigenen Gewissens und ohne Druck selbst bestimmen kann, welche geistige Verpflichtung diese Entdeckung nach sich zieht. Um diese Selbständigkeit aber intelligent nutzen zu können, muss der Mensch zweierlei gewinnen: Zum einen eine Perspektive für den Prozess des Wandels, in welchen er, wie die übrige Weltbevölkerung verstrickt ist, zum anderen Klarheit über die Auswirkungen für sein eigenes Leben. Es ist die Pflicht der Bahá’í-Gemeinde, alles in ihrer Kraft stehende zu tun, sämtliche Stufen dieser weltweiten Bewegung der Menschheit zu unterstützen, die zu einer Wiedervereinigung mit Gott führt. Der Göttliche Plan, wie ihn uns der Meister vererbt hat, ist das Mittel, mit dem dieses Werk durchgeführt wird.
68 Daraus folgt: Wie zentral die Idee der Einheit der Religionen fraglos auch ist, die Aufgabe, Bahá’u’lláhs Botschaft zu teilen, ist kein interreligiöses Projekt. Während der Geist intellektuelle Sicherheit sucht, verlangt die Seele nach Gewissheit. Eine solche innere Überzeugung ist das Ziel aller geistigen Suche, ungeachtet dessen, wie schnell oder allmählich die Bewegung sein mag. Für die Seele ist die Erfahrung der Bekehrung nicht ein beiläufiges oder zufälliges Merkmal der Erforschung religiöser Wahrheit, sondern die Schlüsselfrage, die letzten Endes behandelt werden muss. Die Worte Bahá’u’lláhs zu diesem Thema sind völlig eindeutig, und es kann keinen Zweifel darüber bei denen geben, die ihm dienen wollen: „Wahrlich, Ich sage, dies ist der Tag, an dem die Menschheit das Angesicht des Verheißenen schauen und Seine Stimme hören kann. Gottes Ruf ist erhoben, und das Licht Seines Antlitzes ist über den Menschen aufgegangen. Ein jeder sollte die Spuren jedes eitlen Wortes von der Tafel seines Herzens löschen und mit offenem, unvoreingenommenem Sinn fest auf die Zeichen Seiner Offenbarung, die Beweise Seiner Sendung und die Zeichen Seiner Herrlichkeit schauen.“64

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69 Eines der charakteristischen Merkmale der Moderne ist das weltweite Erwachen eines Geschichtsbewusstseins. Eine Konsequenz dieses revolutionären Perspektivwechsels fördert das Lehren der Botschaft Bahá’u’lláhs: Die Menschen können jetzt – wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt – erkennen, dass alle Heiligen Schriften das Drama der Erlösung mitten in die Geschichte stellen. Unter der Oberfläche einer symbolischen und metaphorischen Sprache lassen die Heiligen Schriften erkennen, dass Religion nicht etwas Magisches ist, sondern in einem Prozess der Erfüllung wirkt, der sich in einer stofflichen Welt entfaltet, die von Gott eigens zu diesem Zweck erschaffen wurde.
70 In dieser Hinsicht sprechen die Texte wie mit einer Stimme: Ziel der Religion ist es, dass die Menschheit das Zeitalter der „Ernte“65 erreicht, in dem „eine Herde und ein Hirte“66 ist; das große Zeitalter, das kommt, wenn „die Erde erstrahlt im Lichte ihres Herrn“67 und der Wille Gottes verwirklicht ist „wie im Himmel so auf Erden“68; der „verheißene Tag“69, wenn die „heilige Stadt“70 herniederkommen wird „vom Himmel, von ... Gott“,71 wenn „der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen [wird], höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen“,72 wenn Gott wissen will „Warum zertretet ihr mein Volk und zerschlagt das Angesicht der Elenden“;73 der Tag an dem die Schriften, die „versiegelt [waren] bis auf die letzte Zeit“74 geöffnet werden und die Vereinigung mit Gott sich ausdrücken wird in „einem neuen Namen ..., welchen des Herrn Mund nennen wird“;75 ein Zeitalter, völlig jenseits von allem, was die Menschheit jemals erfahren, der Geist begriffen oder die Sprache bis jetzt umschrieben hat: „Wie Wir eine erste Schöpfung am Anfang gemacht haben, so machen Wir sie neu. Das ist ein Uns obliegendes Versprechen. Ja, wir werden es tun.“76
71 Der erklärte Zweck der Kette prophetischer Offenbarungen in der Geschichte war folglich, nicht nur den individuellen Sucher auf den Pfad seiner persönlichen Erlösung zu führen, sondern die gesamte Menschheitsfamilie auf das große eschatologische Ereignis vorzubereiten, das vor ihr liegt und das Leben der ganzen Welt vollkommen verwandeln wird. Die Offenbarung Bahá’u’lláhs ist weder vorbereitend noch prophetisch. Sie ist dieses Ereignis. Durch ihren Einfluss ist das gewaltige Unternehmen, die Grundlage für das Reich Gottes zu legen, in Bewegung gebracht worden und die Bevölkerung der Erde wurde mit der Kraft und den Fähigkeiten ausgestattet, die für diese Aufgabe nötig sind. Dieses Reich ist eine universale Zivilisation, die gestaltet ist von sozialer Gerechtigkeit und bereichert durch Errungenschaften des menschlichen Verstandes und des Geistes, jenseits all dessen, was die heutige Zeit erfassen kann. „Dies ist der Tag“, erklärt Bahá’u’lláh, „da Gottes erhabenste Segnungen den Menschen zugeströmt sind, der Tag, da alles Erschaffene mit Seiner mächtigsten Gnade erfüllt wurde. ... Bald wird die heutige Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet werden.“77
72 Der Dienst an diesem Ziel erfordert, dass man den fundamentalen Unterschied versteht zwischen dem, was die Sendung Bahá’u’lláhs charakterisiert, und den politischen und ideologischen Projekten aus Menschenhand. Das moralische Vakuum, das die Schrecken des 20. Jahrhunderts hervorbrachte, hat den menschlichen Geist bis an seine äußerste Grenze geführt und gezeigt, dass er nicht in der Lage ist, ohne fremde Hilfe eine ideale Gesellschaft zu planen und zu konstruieren, wie viele materielle Ressourcen auch dafür eingesetzt werden. Das Leid, das daraus folgte, hat den Menschen eine Lektion erteilt, die sich tief in das Bewusstsein der Weltbevölkerung eingegraben hat. Die Perspektive der Religion für die Zukunft der Menschheit hat darum nichts gemein mit den Systemen der Vergangenheit und nur relativ wenig mit denen der Gegenwart. Sie spricht eine Wirklichkeit im „genetischen Code“ der vernunftbegabten Seele an, wenn man es so nennen kann. Das Himmelreich, so lehrte Jesus vor zweitausend Jahren, ist „mitten unter euch“.78 Seine Analogien von einem „Weinberg“79 oder „auf gutes Land gesät“80 und dass „jeder gute Baum gute Früchte“81 bringt, sprechen von Fähigkeiten des Menschengeschlechts, die von Anfang an von Gott genährt und gebildet wurden, als Zweck und leitendes Prinzip des schöpferischen Prozesses. Die Fortführung der Aufgabe geduldiger Kultivierung hat Bahá’u’lláh der Gemeinde derer anvertraut, die Ihn erkennen und Seine Sache annehmen. Kein Wunder, dass Er in einer erhabenen Sprache von einem so großen Privileg spricht: „Ihr seid die Sterne am Himmel des Verstehens, der frische Wind, der am Morgen weht, das ruhig fließende Wasser, von dem das wahre Leben aller Menschen abhängt.“82
73 Der Prozess trägt in sich selbst die Zusicherung seiner Erfüllung. Für jeden, der Augen hat zu sehen, entsteht heute überall die neue Schöpfung, genauso, wie ein Keimling zu einem Baum wird, der Früchte trägt und ein Kind erwachsen wird. Die aufeinanderfolgenden Offenbarungen eines liebenden und mächtigen Schöpfers haben die Bewohner der Erde an die Schwelle gebracht, erwachsen zu werden als ein einziges Volk. Bahá’u’lláh ruft nun die Menschheit zusammen, ihr Erbe anzutreten. „Die wirksamste Arznei, das mächtigste Mittel, das der Herr für die Heilung der Welt verfügt hat, ist die Vereinigung aller Völker in einer allumfassenden Sache, in einem gemeinsamen Glauben.“82



Ein gemeinsamer Glaube
Literatur


Bahá’u’lláh
– Ährenlese. Eine Auswahl aus den Schriften Bahá’u’lláhs, zusammengestellt und ins Englische übertragen von Shoghi Effendi, 4. revidierte Auflage, Hofheim 1999
– Botschaften aus ‘Akká, Hofheim 1982
– Brief an den Sohn des Wolfes, Hofheim 1966
– Das Buch der Gewissheit – Kitáb-i-Íqán, 4. revidierte Auflage, Hofheim 2000
– Gebete und Meditationen, 3. revidierte Auflage, Hofheim 1992
– Súrat’ul-Haykal, in: The Summons of The Lord of Hosts – Tablets of Bahá’u’lláh, Haifa 2002 (deutsche Ausgabe in Vorbereitung)
– Die Sieben Täler – Die Vier Täler, 4. Auflage, Hofheim 1997

‘Abdu’l-Bahá
– Briefe und Botschaften, Hofheim 1992
– Das Geheimnis göttlicher Kultur, Hofheim 1973
– Promulgation of Universal Peace, 2. Auflage, Wilmette 1982
– Das Testament, in: Bahá’u’lláh/‘Abdu’l-Bahá: Dokumente des Bündnisses, Hofheim 1989

Shoghi Effendi
– Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt 1969
– Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim 1977

Das Universale Haus der Gerechtigkeit
– Vorurteile überwinden. Ein Aufruf an die Repräsentanten der Religionen der Welt, Hofheim 2003
1 Bahá’u’lláh, Die Sieben Täler, S. 19
2 Bahá’u’lláh, Ährenlese 6
3 Bahá’u’lláh, Ährenlese 16:3

4 Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká 3:26
5 Bahá’u’lláh, Ährenlese 17:4
6 Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, S. 118
7 Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 216
8 ebenda
9 Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 104
10 ebenda 106
11 Bahá’u’lláh, Ährenlese 22:3
12 Bahá’u’lláh, Gebete und Meditationen 180:2
13 Bahá’u’lláh, Ährenlese 27:5
14 ebenda 109:2
15 ebenda 81
16 Julian Huxley, zitiert von Pierre Teilhard de Chardin, The Phenomenon of Man, London 1959, S. 243. Siehe auch Julian Huxley, Knowledge, Morality, and Destiny, New York 1957, S. 13.
17 Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 58
18 Bahá’u’lláh, Ährenlese 78:3
19 Bahá’u’lláh, Ährenlese 132:1

20 Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Aqdas 182
21 Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 4
22 ebenda 8
23 ebenda 13
24 ebenda 14
25 Matthäus 13,25
26 ebenda 13,29-30

27 Qur’án 7:33
28 Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Aqdas 99
29 Bahá’u’lláh, Súrat’ul-Haykal 126
30 Bahá’u’lláh, zitiert in Shoghi Effendi, Das Kommen Göttlicher Gerechtigkeit, S. 124
31 Jesaja 45,5
32 1. Timotheus 1,17

33 Qur’án 3:73
34 ebenda 2:177
35 Matthäus 5,13
36 ebenda 5,14
37 Micha 6,8
38 Johannes 14,6
39 Qur’án 24:35
40 Genesis 17,7
41 Bhagavad-Gita, Kapitel IV (in der Übersetzung von Leopold von Schröder)
42 Deuteronomium 34,10
43 Johannes 5,45 – 47
44 Qur’án 2:136
45 Promulgation, S. 326
46 Johannes 1,10

47 Bahá’u’lláh, Ährenlese 106:1

48 Abraham Lincoln, zitiert in: Inaugural Addresses of the Presidents of the United States, Washington 1989
49 Qur’án 21:104
50 Bahá’u’lláh, Kitáb-i-Aqdas 5
51 Bahá’u’lláh, Súrat’ul-Haykal 174
52 Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 299
53 Súrat’ul-Haykal 182; vgl. auch Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 278
54 Bahá’u’lláh, Ährenlese 106:2
55 Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká 8:63
56 ebenda 11:15
57 Bahá’u’lláh, zitiert in Shoghi Effendi, Das Kommen Göttlicher Gerechtigkeit, S. 132 f.
58 Bahá’u’lláh, Ährenlese 132:3
59 ‘Abdu’l-Bahá, Das Geheimnis Göttlicher Kultur, S. 87

60 ‘Abdu’l-Bahá, Briefe und Botschaften 206:9
61 Bahá’u’lláh, aus einem zuvor noch nicht übersetzten Text
62 ‘Abdu’l-Bahá, Testament 3:9
63 Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit 213
64 Bahá’u’lláh, Ährenlese 7:1
65 Bahá’u’lláh, Súrat’ul-Haykal 126
66 Johannes 10,16
67 Qur’án 39:69
68 Matthäus 6,10
69 Qur’án 85:2
70 Offenbarung 21,2
71 ebenda 3,12
72 Jesaja 2,2
73 ebenda 3,15
74 Daniel 12,9
75 Jesaja 62,2
76 Qur’án 21:104
77 Bahá’u’lláh Ährenlese 4:1,2
78 Lukas 17,21
79 Matthäus 21,33
80 ebenda 13,23
81 ebenda 7,17
82 ebenda 120:3

Ein gemeinsamer Glaube

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