Die Haltung der Bahá'í in politischen Krisen
Die aktuelle bedrohliche Weltlage, die zu militärischer Auseinadersetzung führen kann, lässt die
Bahá'í nicht unberührt. Viele werden sich in der gegenwärtigen Lage gewiss an die Friedenserklärung
des Universalen Hauses der Gerechtigkeit 1986 erinnern - unter anderem an folgende markante Aus-
sage: Ob der Friede erst nach unvorstellbaren Schrecken erreichbar ist, heraufbeschworen durch
stures Beharren der Menschheit auf veralteten Verhaltensmustern, oder ob er heute durch einen
konsultativen Willensakt herbeigeführt wird, das ist die Wahl, vor die alle Erdenbewohner gestellt
sind. "
Wie sollen sich die Bahá'í in diesen Tagen verhalten, wenn die Menschen auf die Straße gehen
oder auf andere Weise ihren Protest artikulieren in der Hoffnung, Schlimmes abzuwenden? Was ant-
worten sie, wenn sie in Kreisen des interreligiösen Dialogs und anderen Gruppen, mit denen sie zu-
sammenarbeiten, aufgefordert werden, sich an Kundgebungen, Aufrufen, Unterschriftenaktionen und
Demonstrationen zu beteiligen? Bevor wir versuchen, gestützt auf für uns verbindliche Texte, den
Freunden eine Orientierung an die Hand zu geben, sollten wir uns Folgendes vor Augen führen: Die
gegenwärtige Lage ist gekennzeichnet durch eine extreme Spaltung, die inzwischen sogar traditionell
befreundete Regierungen auseinander dividiert, und sie ist so verworren, dass die vermeintlich gute
und gerechte Sache nicht durch ein ungetrübtes Urteil von ihrem Widerpart unterschieden werden
kann.
Als vor wenigen Wochen Vertreter von Bahá'í-Institutionen in Gremien des interreligiösen Dialogs
auf lokaler wie nationaler Ebene aufgefordert wurden, Resolutionen gegen eine militärische Eskalation
im Nahen Osten mit zu tragen, hat sich der Nationale Geistige Rat um Führung an das Universale
Haus der Gerechtigkeit gewandt. In einem Antwortschreiben im Auftrag des Hauses vom 30. Januar
heißt es:
So sehr das Haus der Gerechtigkeit mit den Motiven derer sympathisiert, die die Stellungnahme
entworfen haben, so ist es doch der Ansicht, dass diese Passagen enthält, die nicht mit den Bahá'í-
Lehren übereinstimmen. Zum Beispiel wird die Vorstellung dass der Weltfriede - wenn nötig - mit
Waffengewalt bewahrt wird, von Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá aufrecht erhalten. Die Stellungnahme
zu unterschreiben, würde bedeuten, dass die Bahá'í-Gemeinde zu einer Sache Stellung bezieht, die
in dieser Zeit zu einem parteipolitischen Streitpunkt geworden ist. " [Vorläufige Übersetzung]
Kurz zuvor, am 12. Januar, hatte das Universale Haus einem Bahá'í u.a. folgendes geschrieben:
... Die zentrale Bedeutung des Prinzips, Politik und strittige Angelegenheiten zu meiden, besteht
darin, dass Bahá'í nicht zulassen sollten, in die Kontroversen der so zahlreichen widerstreitenden
Teile der Gesellschaft um sie herum hinein gezogen zu werden. Das Ziel der Bahá'í ist, Standpunk-
te zu versöhnen, Trennungen zu überwinden sowie Toleranz und gegenseitigen Respekt unter den
Menschen herbeizuführen. Dieses Ziel wird jedoch untergraben, wenn wir uns von den flüchtigen
Leidenschaften der anderen mitreißen lassen. Dies bedeutet nicht, dass Bahá'í mit keiner anderen
Bewegung zusammenarbeiten können; es bedeutet aber, dass Urteilsfähigkeit nötig ist, um zwi-
schen Aktivitäten und Vereinigungen unterscheiden zu können, die segensreich und konstruktiv sind
und solchen die spalterisch wirken. " [Vorläufige Übersetzung]
Kurz zuvor, am 12. Januar, hatte das Univer-sale Haus einem Bahá'í u.a. folgendes ge-schrieben:
Freunde, die nach ihrem Standpunkt zum Irak-Konflikt gefragt werden, könnten antworten, dass sie
sich als Bahá'í zu keiner der Konfliktparteien bekennen und dass sie als Gläubige dafür beten, dass
solcherlei Konflikte so bald und so friedlich wie möglich beendet werden können. Die Bahá'í sind für
internationales Recht und die Stärkung der Vereinten Nationen. So schrieb das Haus der Gerech-
tigkeit am 21. November 2001 an einen Bahá'í: In dem Maße, wie das Programm der Bahá'í-Sache
damit befasst ist, Änderungen im Bereich der öffentlichen Ordnung und des Verhaltens auf örtlicher,
nationaler und internationaler Ebene hervorzurufen, operiert es selbst im politischen Raum. Zu die-
sem Zweck kooperiert die Gemeinde mit anderen gleichgesinnten Organisationen und arbeitet eng
mit wohlgesinnten Regierungen und Einrichtungen der Vereinten Nationen zusammen. Dabei ist sie
peinlichst darauf bedacht, nicht in Vorhaben verstrickt zu werden, die den Interessen einzelner Par-
teien, Gruppierungen oder ähnlich einseitig ausgerichteter politischer Kräfte dienen. Dieser Maßstab
muss gleichermaßen das Verhalten einzelner Gläubiger bestimmen" [Vorläufige Übersetzung]
Im Dezember 2002 bat ein Geistiger Rat, dessen Vertreter in einem Gremium des interreligiösen
und interkulturellen Dialogs eine Resolution gegen eine militärische Intervention im Irak-Konflikt mit
unterschreiben sollte, den Nationalen Rat um Führung. Da die Antwort und vor allem die darin zitier-
ten Texte in vorliegendem Kontext von allgemeinem Interesse sind, wird sie hier wieder gegeben:
,... der Nationale Rat (hat) aufgrund folgender Überlegungen beschlossen Sie zu bitten, sich
dem Aufruf nicht anzuschließen. Der Bahá'í-Glaube tritt für den Frieden durch Einheit der Mensch-
heit ein. Er ist vielleicht die einzige Instanz in der Welt, die bei allen Äußerungen und allem Tun in
dieser Hinsicht das Wohl der gesamten Menschheit als Ziel verfolgt, und zwar ohne die geringste
Bevorzugung oder Benachteiligung irgendeiner Gruppe. Seine Glaubwürdigkeit in dieser Hinsicht
kann der Glaube nur aufrechterhalten, wenn er sich kompromisslos von allen politischen Auseinan-
dersetzungen fern hält. Diese Haltung kann bei Menschen, die den Glauben nicht zur Genüge ken-
nen, die falsche Einschätzung und den Vorwurf hervorrufen, ihm sei das Schicksal der Menschen
gleichgültig. Da können wir aber informieren und Aufklärung betreiben. Wir können zum Beispiel auf
die Aufrufe der Internationalen Bahá'í-Institutionen, einschließlich des Universalen Hauses der Ge-
rechtigkeit, hinweisen und auf die Aktivitäten im Rahmen der verschiedenen UNO-Gremien.
Wir können dabei herausstellen, dass die Bahá'í stets bemüht sind, konstruktiv Wege in die Zukunft
aufzuzeigen. Sie gehen dabei von ihren Glaubensgrundsätzen aus, wie z.B. der Einheit der Mensch-
heit als dem von Gott gewollten Ziel, und begründen so ihre Handlungen auf tiefgründige Zusammen-
hänge der Wirklichkeit. Sie fordern die Begrenzung national-staatlicher Souveränität sowie eine dras-
tische Abrüstung und die Aufstellung einer internationalen Streitmacht, um Aggressoren in die
Schranken zu weisen; aber sie treten nicht für den Pazifismus ein, weil sie nicht glauben, dass dies
den Frieden sichern würde.
Es geht selbstverständlich nicht darum, dass wir Initiativen anderer ... gering schätzen oder nicht be-
reit wären, das Anliegen der Initiatoren anzuerkennen. Ganz im Gegenteil, auch wenn der Gegens-
tand der Debatte viel komplexer ist, als der [zur Debatte stehende] Aufruf erkennen lässt. Aber so wie
wir die lautere Absicht unserer Partner im interreligiösen Dialog und anderswo bei derartigen Aktionen
anerkennen, können wir erwarten, dass sie akzeptieren, dass die Bahá'í es mit der Lehre ihres Glau-
bens nicht vereinbaren können, in einen politischen Konflikt einzugreifen. Abgesehen von der grund-
sätzlichen Haltung, die keine Kompromisse zulässt, wäre zu bedenken, dass die Folgen einer Mit-
Unterzeichnung des Aufrufs unabsehbar sein können. Passend hierzu möchten wir Sie auf folgende
Ermahnung des Universalen Hauses hinweisen:
... wir werden gerne versuchen, einige der Punkte zu klären, die hinsichtlich der Beziehung der
Bahá'í zu Politik für Sie verwirrend sind. Dies ist eine Angelegenheit von großer Bedeutung zumal
in diesen Tagen, da die Weltlage so verworren ist. Eine unkluge Handlung oder Stellungnahme ei-
nes Bahá'í in einem Land könnte gravierende Rückschläge für den Glauben dort oder andernorts
zur Folge haben - und sogar den Verlust von Leben von Mitgläubigen. " [Vorläufige Übersetzung]
Auch die folgenden Zitate aus Briefen des Universalen Hauses der Gerechtigkeit sind in dem
Zusammenhang erhellend:
Wegen einer solchen Haltung und auch weil wir es ablehnen, in Politik hingezogen zu werden,
wird den Bahá'í häufig vorgehalten, sie stünden abseits der ,realen Probleme' ihrer Mitmenschen.
Aber wenn wir diesen Vorwurf hören, sollten wir nicht vergessen, dass diejenigen, die ihn vorbrin-
gen, in der Regel idealistische Materialisten sind, für die das materielle Gut das einzig, reale Gut ist.
Wir aber wissen, dass das Funktionieren der materiellen Welt nur eine Widerspiegelung geistiger
Verhältnisse ist und dass, solange nicht die geistigen Verhältnisse verändert werden können, es
auch keinen anhaltenden Wandel zum Besseren in materiellen Dingen geben kann." [Vorläufige
Übersetzung]
Sollten die Institutionen des Glaubens, Gott bewahre, in Politik verstrickt werden, würden die
Bahá'í feststellen, dass sie Zwietracht statt Liebe hervorrufen. Würden sie in einem Land einen be-
stimmten Standpunkt einnehmen, würden sie zwangsläufig die Ansichten der Menschen über die
Ziele und Absichten des Glaubens in einem anderen Land verändern. Sollten sie in politische Aus-
einandersetzungen hineingezogen werden, würden die Bahá'í, anstatt die Welt zu ändern und ihr zu
helfen, selbst verloren sein und vernichtet werden. Die Weltlage ist so verworren und die einst kla-
ren Fragen der Moral sind so sehr mit eigensüchtigen und einander widerstreitenden Gruppeninte-
ressen vermengt worden, dass die Bahá'í den Interessen ihres Landes und der wahren Erlösung
der Welt am besten dadurch dienen können, dass sie ihren politischen Bestrebungen und Neigun-
gen entsagen und von ganzem Herzen und uneingeschränkt das göttliche System Bahá'u'lláhs un-
terstützen. " [Vorläufige Übersetzung]
Bahá'í-Nachrichten März 2003
Eine Mitteilung des Nationalen Geistigen Rates angesichts des Konflikts im Nahen Osten
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