Lesen: 2002 April, An die Religiösen Fuehrer der Welt


Das Universale Haus der Gerechtigkeit

Bah‡'’-Weltzentrum

April 2002


AN DIE RELIGI…SEN F†HRER DER WELT

Das bleibende VermŠchtnis des zwanzigsten Jahrhunderts besteht darin, dass es die Všlker der Welt dazu zwang, sich als die Glieder einer einzigen Menschheit zu sehen, und die Erde als gemeinsame Heimat dieser einen Menschheit. Trotz andauernder Gewalt und Konflikte, die den Horizont verdunkeln, lassen Vorurteile, die einst dem Wesen der Gattung Mensch angeboren schienen, allerorts nach. Mit ihnen fallen auch Barrieren, die die Menschheitsfamilie lange Zeit in ein Babel isolierter IdentitŠten kulturellen, ethnischen oder nationalen Ursprungs spalteten. Dass eine so tiefgreifende Wandlung sich in so kurzer ZeitÑaus historischer Sicht praktisch Ÿber NachtÑvollziehen konnte, lŠsst das Ausma§ zukŸnftiger Mšglichkeiten erahnen.

Tragischerweise ist die institutionalisierte Religion, deren Seinsgrund den Dienst an der Sache der BrŸderlichkeit und des Friedens fordert, allzu oft eines der gewaltigsten Hindernisse auf diesem Pfad; um eine besonders schmerzliche Tatsache anzufŸhren: schon lange hat sie ihre GlaubwŸrdigkeit dem Fanatismus hergegeben. Als oberstes Gremium einer der Weltreligionen fŸhlen wir uns verpflichtet darauf zu drŠngen, ernsthaft Ÿber die Herausforderung nachzudenken, vor die dies religišse FŸhrer stellt. Sowohl das Problem als auch die sich daraus ergebenden UmstŠnde zwingen uns, offen zu sprechen. Wir vertrauen darauf, dass der gemeinsame Dienst am Gšttlichen sicherstellt, dass das Gesagte im selben Geiste des guten Willens aufgefasst wird, in dem es geŠu§ert wurde.

Besonders deutlich wird das Problem, wenn man Ÿberlegt, was auf anderen Gebieten erreicht wurde. In der Vergangenheit wurden Frauen, abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, als minderwertig angesehen; Aberglaube schrŠnkte sie in ihrem Wesen ein; ihnen wurde jede Chance versagt, die Mšglichkeiten des menschlichen Geistes auszudrŸcken; sie wurden dazu degradiert, den BedŸrfnissen der MŠnner zu dienen. NatŸrlich gibt es Gesellschaften, in denen immer noch solche ZustŠnde herrschen und sogar fanatisch verteidigt werden. Auf der Ebene der globalen Diskussion jedoch hat die Idee der Gleichberechtigung der Geschlechter inzwischen praktisch die Macht eines allgemein anerkannten Prinzips erlangt. €hnlich verbindlich ist es fŸr den grš§ten Teil der Wissenschaftswelt und der Medien. So grundlegend wurde hier umgedacht, dass BefŸrworter einer mŠnnlichen Vormachtstellung kaum noch bei verantwortungsvollen Meinungsbildnern UnterstŸtzung finden.

Die belagerten Bataillone des Nationalismus sehen sich einem Šhnlichen Schicksal gegenŸber. Mit jeder Ÿberstandenen Krise in den Angelegenheiten der Welt wird es fŸr den BŸrger leichter, zwischen einer Vaterlandsliebe, die das Leben bereichert, und der Aufwiegelung durch Hetzreden, die Hass auf andere und Angst vor ihnen provozieren wollen, zu unterscheiden. Selbst dort wo die Teilnahme an den gewohnten nationalistischen Riten geboten ist, zeigen sich in der šffentlichen Reaktion neben den altbekannten Bekundungen fester †berzeugung und bereitwilliger Begeisterung ebenso oft GefŸhle der Betretenheit. Dieser Effekt wurde durch die Umstrukturierung verstŠrkt, die sich innerhalb der internationalen Ordnung unaufhšrlich vollzieht. Bei allen MŠngeln im System der Vereinten Nationen, wie es gegenwŠrtig besteht, und wie begrenzt auch ihre FŠhigkeit ist, gemeinsam militŠrisch gegen Aggression vorzugehenÑes kann niemand die Tatsache verkennen, dass der Fetisch uneingeschrŠnkter nationaler SouverŠnitŠt dahinschwindet.

Rassische und ethnische Vorurteile wurden von historischen Prozessen, die keine Geduld mehr fŸr derartige Anma§ungen aufbringen, ebenso abgetan. Hier grenzte man sich besonders entschlossen von der Vergangenheit ab. Durch seine VerknŸpfung mit den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts ist Rassismus heute derart negativ belegt, dass er gewisserma§en den Charakter einer geistigen Krankheit angenommen hat. Obwohl rassische Vorurteile als gesellschaftliche Einstellung noch in vielen Teilen der Welt ŸberlebenÑund einem erheblichen Teil der Menschheit das Leben vergŠllenÑwerden sie heute im Prinzip so universell verurteilt, dass keine Gruppe sich mehr unbesorgt erlauben kann, damit identifiziert zu werden.

Nicht dass eine dunkle Vergangenheit ausgelšscht und eine neue Welt des Lichts plštzlich geboren wŠre. UnzŠhlige Menschen mŸssen noch immer die Auswirkungen tief verwurzelter Vorurteile hinsichtlich der Volkszugehšrigkeit, des Geschlechts, der Nation, Kaste oder Klasse ertragen. Alles deutet darauf hin, dass solches Unrecht noch lange weiter bestehe n wird, da die Institutionen und Ma§stŠbe, die die Menschheit gerade entwickelt, nur langsam die Kraft gewinnen, eine neue Ordnung der Beziehungen aufzubauen und das Leid der UnterdrŸckten zu lindern. Aber es wurde eine Schwelle Ÿberschritten, von der umzukehren es keine glaubwŸrdige Mšglichkeit mehr gibt. Fundamentale Prinzipien sind erkannt und artikuliert, ihnen ist viel šffentliche Aufmerksamkeit zuteil geworden und sie verankern sich immer fester in Institutionen, die in der Lage sind, sie durchzusetze n. So langwierig und schmerzvoll der Kampf auch ist, es gibt keinen Zweifel daran, dass in seiner Folge die Beziehungen zwischen allen Všlkern an der Basis revolutioniert werden.

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Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sah es so aus, als seien es vor allem religišse Vorurteile, die den KrŠften des Wandels erliegen wŸrden. Im Westen waren wissenschaftliche Erkenntnisse bereits hart mit den zentralen SŠulen religišser Ausschlie§lichkeitsansprŸche ins Gericht gegangen. Die vielversprechendste neue religišse Entwicklung im Zusammenhang mit der verŠnderten Selbstwahrnehmung der Menschheit war die interreligišse Bewegung. Selbst die ambitionierten Organisatoren der Weltausstellung 1893 in Chicago waren Ÿberrascht, als hier das berŸhmte ÒParlament der ReligionenÓ ins Leben trat, eine Vision geistiger und moralischer Einigkeit, die die Fantasie der Menschen auf allen Kontinenten beschŠftigte, und der es sogar gelang, die wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Wunder, die auf der Ausstellung gefeiert wurden, in den Schatten zu stellen.

Kurz, es schien, als seien alte Mauern gefallen. Nach EinschŠtzung einflussreicher Denker auf dem Gebiet der Religion war diese Versammlung einzigartig, Òohnegleichen in der WeltgeschichteÓ. Das Parlament, so sagte sein hervorragender Hauptorganisator, hatte Òdie Welt von der Bigotterie befreitÓ. Eine fantasievolle FŸhrung, so wurde voll Zuversicht vorausgesagt, wŸrde die Gelegenheit ergreifen und in den schon lange entzweiten religišsen Gemeinden der Welt einen Geist der BrŸderlichkeit erwecken, der die fŸr die neue Welt des Wohlstands und Fortschritts notwendigen moralischen StŸtzmauern bieten kšnnte. Dadurch ermutigt wuchsen und gediehen die unterschiedlichsten interreligišsen Bewegungen. Umfangreiche Literatur, die in vielen Sprachen zugŠnglich war, machte eine immer breitere …ffentlichkeit, GlŠubige und Nicht-GlŠubige gleicherma§en, mit den Lehren aller gro§en Religionen vertraut und schuf ein Interesse, das spŠter auch durch das Radio, das Fernsehen und schlie§lich das Internet aufgegriffen wurde. Hochschulen fŸhrten StudiengŠnge in Vergleichender Religionswissenschaft ein. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden interreligišse Andachten, noch ein paar Jahrzehnte zuvor undenkbar, zu etwas AlltŠglichem.

Leider fehlt es diesen Initiativen eindeutig sowohl an intellektueller KohŠrenz als auch an geistiger Verbindlichkeit. Im Gegensatz zu den Einigungsprozessen, die die Ÿbrigen sozialen Beziehungen der Menschheit transformieren, wird der Idee, dass alle gro§en Religionen der Welt ihrem Wesen und Ursprung nach gleicherma§en gŸltig sind, von fest verankerten Mustern religišsen Denkens hartnŠckig Widerstand geleistet. Der Prozess der Rassenintegration ist keine blo§ sentimentale oder taktische Entwicklung, sondern erwŠchst aus der Erkenntnis, dass die Všlker der Welt eine einzige Gattung bilden, deren zahlreiche unterschiedliche AusprŠgungen an sich weder einen Vorteil fŸr die Mitglieder der einen, noch einen Nachteil fŸr die einer anderen mit sich bringen. Genauso erforderte die Emanzipation der Frau die Bereitschaft sowohl gesellschaftlicher Institutionen als auch der šffentlichen Meinung anzuerkennen, dass es keine akzeptablen GrŸndeÑbiologische, soziale oder moralischeÑgeben kann, die rechtfertigen, dass Frauen die volle Gleichberechtigung mit MŠnnern oder MŠdchen dieselben Bildungsmšglichkeiten wie Jungen verwehrt werden. Und ebenso wenig kann die WertschŠtzung der BeitrŠge, die manche Nationen zur Formung einer sich herausbildenden Weltkultur leisten, die Ÿberlieferte Illusion stŸtzen, dass andere Nationen nur wenig oder gar nichts zu diesen BemŸhungen beizutragen haben.

Eine so grundsŠtzliche Neuorientierung scheinen die meisten religišsen FŸhrungsinstanzen nicht vornehmen zu kšnnen. Andere Teile der Gesellschaft nehmen die Implikationen der Einheit der Menschheit mit offenen Armen auf, nicht nur als unausweichlichen nŠchsten Schritt im Voranschreiten der Zivilisation, sondern als ErfŸllung jeglicher partikularer IdentitŠten, die das Menschengeschlecht zu diesem entscheidenden Moment in unserer gemeinsamen Geschichte mitbringt. Die religišsen Institutionen stehen grš§tenteils jedoch wie gelŠhmt an der Schwelle der Zukunft, gefangen in eben den Dogmen und Ausschlie§lichkeitsansprŸchen, die Ursache fŸr einige der bittersten KŠmpfe waren, welche die Bewohner der Erde entzweiten.

FŸr das Wohlergehen der Menschheit hatten diese KŠmpfe verheerende Folgen. Zweifellos ist es nicht nštig, hier detailliert auf die Schrecken einzugehen, die heute unglŸckliche Všlker heimsuchen als Folge fanatischer AusbrŸche, die dem Namen der Religion Schande machen. Auch ist dies kein neues PhŠnomen. Die Religionskriege im Europa des sechzehnten Jahrhunderts, um nur eines vieler Beispiele anzufŸhren, kosteten diesen Kontinent etwa drei§ig Prozent seiner gesamten Bevšlkerung. Man muss sich fragen, welche Ernte der Samen des blinden religišsen Dogmatismus langfristig im Bewusstsein der Menschen hervorbrachte.

Zu dieser AufzŠhlung gehšrt noch ein Verrat am menschlichen Geist, der mehr als alles andere die Religion der ihr innewohnenden FŠhigkeit beraubt hat, eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Welt zu spielen. Gefangen in der stŠndigen BeschŠftigung mit Angelegenheiten, die menschliche Energien zerstreuen und verpuffen lassen, haben religišse Institutionen allzu oft die Menschen davon abgehalten, die Wirklichkeit zu erforschen und von all den intellektuellen FŠhigkeiten Gebrauch zu machen, durch die die Menschheit sich auszeichnet. Die Verurteilung von Materialismus und Terrorismus ist bei der BewŠltigung der gegenwŠrtigen moralischen Krise keine echte Hilfe, wenn sie nicht zuallererst darauf eingeht, dass die religišsen Institutionen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind und die glŠubigen Massen diesen EinflŸssen schutzlos ausgeliefert haben.

So schmerzlich solche †berlegungen auch sein mšgen, sie sind weniger ein Armutszeugnis fŸr religišse Institutionen als eine Erinnerung an die einzigartige Kraft, fŸr die Religion steht. Religion reicht, wie wir uns alle bewusst sind, bis an die Wurzeln der Motivation. Wo sie dem Geist und dem Beispiel der transzendenten Gestalten, die der Welt ihre gro§en Glaubenssysteme brachten, treu war, hat sie in ganzen Všlkern die FŠhigkeit geweckt zu lieben, zu vergeben, Neues zu schaffen, Gro§artiges zu wagen, Vorurteile zu Ÿberwinden, fŸr das Gemeinwohl Opfer zu bringen und die Impulse niederer Instinkte zu zŸgeln. Ohne Frage ist die prŠgende Kraft bei der Zivilisierung der menschlichen Natur seit je her der Einfluss der aufeinanderfolgenden Manifestationen des Gšttlichen, der bis zu den AnfŠngen der Geschichtsschreibung zurŸckreicht.

Eben diese Kraft, die in vergangenen Zeitaltern eine solche Wirkung hatte, bleibt ein unauslšschliches Merkmal menschlichen Bewusstseins. Entgegen allen Erwartungen und unter wenig gŸnstigen Voraussetzungen gibt sie noch immer ungezŠhlten Millionen Kraft in ihrem †berlebenskampf und lŠsst weiter Helden und Heilige sich in allen LŠndern erheben, deren Leben Ÿberzeugend Rechenschaft fŸr die Prinzipien ablegt, die in den Schriften ihres jeweiligen Glaubens niedergelegt sind. Wie die Kulturgeschichte zeigt, ist die Religion au§erdem imstande, die Struktur sozialer Beziehungen wesentlich zu beeinflussen. TatsŠchlich wŸrde einem wohl kaum ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt in den Sinn kommen, der seine moralische Triebkraft nicht aus dieser ewigen Quelle gewonnen hŠtte. Ist es also denkbar, dass das Erreichen des Gipfels im jahrtausendewŠhrenden Prozess der Organisation des Planeten in einem geistigen Vakuum gelingen kann? Wenn die abnormen Ideologien, die im gerade zu Ende gegangenen Jahrhundert unsere Welt heimsuchten, auch sonst nichts Gutes bewirkten, so haben sie doch eindeutig gezeigt, dass die Not nicht durch Mittel zu lindern ist, die zu erdenken der Mensch fŠhig wŠre.

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Was das heute bedeutet, fasst Bah‡ÕuÕll‡h in folgenden Worten zusammen, die vor Ÿber einem Jahrhundert geschrieben und inzwischen weit verbreitet wurden:


"Ohne Zweifel verdanken die Všlker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehšren, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle. Sie sind einem einzigen Gott untertan. Unterschiede der Regeln und Riten, denen sie folgen, mŸssen den wechselnden Erfordernissen und BedŸrfnissen der Zeitalter zugeschrieben werden, in denen sie offenbart wurden. Alle bis auf wenige, die aus menschlichen Launen entstanden, wurden von Gott verfŸgt und sind eine Widerspiegelung Seines Willens und Zieles. Erhebt euch und schlagt, bewaffnet mit der Kraft des Glaubens, die Gštzen eures leeren Wahns in StŸcke, die Zwietracht unter euch sŠen. Haltet euch an das, was euch zusammenfŸhrt und eint."

Ein solcher Appell fordert nicht dazu auf, den Glauben an die grundlegenden Wahrheiten irgendeines der gro§en Glaubenssysteme der Welt aufzugeben. Ganz im Gegenteil. Glaube befiehlt sich selbst und rechtfertigt sich selbst. Was andere glaubenÑoder nicht glaubenÑkann keine AutoritŠt haben fŸr irgendein persšnliches Gewissen, das diesen Namen verdient. Wozu die hier wiedergegebenen Worte unmissverstŠndlich drŠngen ist, all jene AnsprŸche auf Ausschlie§lichkeit oder EndgŸltigkeit aufzugeben, die mehr als alles andere Einigungsimpulse zunichte machen und Hass und Gewalt schŸren, indem sie das Leben des Geistes ersticken.

Auf genau diese historische Herausforderung, so glauben wir, mŸssen die FŸhrer der Religionen antworten, wenn religišse FŸhrung in der globalen Gesellschaft, die aus den umwŠlzenden Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgeht, Bedeutung haben soll. Ganz offensichtlich erkennt eine wachsende Zahl von Menschen mittlerweile, dass die allen Religionen zugrunde liegende Wahrheit dem Wesen nach dieselbe ist. Diese Erkenntnis entsteht nicht als Ergebnis theologischer Dispute, sondern als intuitives Bewusstsein, das den immer umfangreicheren Erfahrungen mit den anderen und der dŠmmernden Anerkennung der Einheit der Menschheitsfamilie erwŠchst. Aus der Unzahl religišser Doktrinen, Rituale und GesetzbŸcher, die aus vergangenen Welten ererbt wurden, bildet sich ein GefŸhl dafŸr heraus, dass das geistige LebenÑwie die Einheit, die sich in verschiedenen NationalitŠten, Rassen und Kulturen manifestiertÑeine grenzenlose, jedermann gleicherma§en zugŠngliche Wirklichkeit ist. Damit diese diffuse und noch zšgerliche Einsicht sich vertiefen und wirksam zum Aufbau einer friedlichen Welt beitragen kann, mŸssen jene, bei denen die Massen der Welt selbst zu so spŠter Stunde noch FŸhrung suchen, sie aus vollem Herzen bestŠtigen.

Hinsichtlich sozialer Gesetze und Formen der Andacht gibt es sicherlich gro§e Unterschiede zwischen den gro§en religišsen Traditionen der Welt. Bedenkt man die Tausende von Jahren, wŠhrend derer aufeinanderfolgende gšttliche Offenbarungen den wechselnden Erfordernissen einer sich stŠndig weiter entwickelnden Zivilisation entsprachen, kšnnte es kaum anders sein. TatsŠchlich scheint das Prinzip des evolutionŠren Wesens von Religion ein den Schriften der meisten gro§en Religionen innewohnendes Merkmal zu sein. Was moralisch nicht gerechtfertigt werden kann, ist der Missbrauch kulturellen Erbes, das ursprŸnglich das geistige Sein bereichern sollte, als Mittel, Vorurteile und Entfremdung zu erregen. Die Hauptaufgabe der Seele wird immer sein, die Wirklichkeit zu erforschen, in †bereinstimmung mit den Wahrheiten zu leben, von denen sie Ÿberzeugt ist, und den BemŸhungen anderer, dasselbe zu tun, vollen Respekt entgegenzubringen.

Man kšnnte einwenden dass, wenn alle gro§en Religionen als ihrem Ursprung nach gleicherma§en gšttlich anzuerkennen sind, dies das Konvertieren zahlreicher Menschen von einem Glauben zu einem anderen ermutige oder doch zumindest erleichtere. Ob das nun stimmt oder nicht, mit Sicherheit ist dies nur von peripherer Bedeutung angesichts der Mšglichkeit, die die Geschichte schlie§lich denen eršffnet, die sich einer Welt, die Ÿber diese irdische hinausgeht, bewusst sindÑund angesichts der Verantwortung, die dieses Bewusstsein auferlegt. Jede der gro§en Religionen kann eindrucksvoll und glaubhaft Zeugnis ablegen fŸr ihre Wirksamkeit beim Fšrdern eines moralischen Charakters. Ebenso kann niemand Ÿberzeugend behaupten, dass die einem bestimmten Glaubenssystem zugehšrenden Doktrinen mehr Bigotterie und Aberglauben hervorgebracht haben als die eines anderen. In einer zusammenwachsenden Welt ist es natŸrlich, dass Verhaltensmuster einem Prozess stŠndigen Wandels unterworfen sind, und die Aufgabe von Institutionen ist sicherlich zu prŸfen, wie mit diesen Entwicklungen umzugehen ist, damit sie zur Einheit beitragen. Die Garantie dafŸr, dass sie schlie§lich zu einem gesunden Ergebnis fŸhren werdenÑgeistig, moralisch und sozialÑ, liegt im unerschŸtterlichen Glauben der ungehšrten Massen der Erdenbewohner, dass das Universum nicht von menschlichen Launen regiert wird, sondern von einer liebenden, unfehlbaren Vorsehung.

Mit dem Einsturz der trennenden Barrieren zwischen den Všlkern erlebt unser Zeitalter auch den Fall der einst unŸberwindlichen Mauer, die, wie die Vergangenheit annahm, fŸr immer das Leben des Himmels von dem der Erde scheiden wŸrde. Die Schriften aller Religionen lehren den GlŠubigen seit jeher, den Dienst an anderen nicht nur als eine moralische Pflicht zu betrachten, sondern als einen Pfad, auf dem die Seele Gott nŠherkommen kann. Heute verleiht die fortschreitende Neustrukturierung der Gesellschaft dieser altbekannten Lehre eine erweiterte Bedeutung. So wie das uralte Versprechen einer von den Prinzipien der Gerechtigkeit beseelten Welt langsam den Charakter eines realistischen Zieles annimmt, wird es zunehmend als sich ergŠnzende Aspekte eines reifen geistigen Lebens angesehen werden, sich sowohl den BedŸrfnissen der Seele als auch den Belangen der Gesellschaft zu widmen.

Wenn religišse FŸhrung sich der Herausforderung, die diese Einsicht bedeutet, stellen will, so muss sie damit beginnen, Religion und Wissenschaft als zwei unentbehrliche Wissenssysteme anzuerkennen, durch die sich die Mšglichkeiten des Bewusstseins entfalten. Sie widersprechen sich nicht, im Gegenteil: diese fundamentalen Mittel, mit denen der Geist die Wirklichkeit erforscht, hŠngen voneinander ab und waren hšchst produktiv in den seltenen aber glŸcklichen Epochen der Geschichte, in denen ihr komplementŠres Wesen erkannt wurde und sie zusammenarbeiten konnten. Die Einsichten und FŠhigkeiten, die wissenschaftlicher Fortschritt hervorbringt, werden stets FŸhrung durch geistige und moralische Verantwortung suchen mŸssen; religišse †berzeugungen, wie sehr auch das Herz an ihnen hŠngen mag, mŸssen sich bereitwillig und dankbar unvoreingenommener †berprŸfung durch wissenschaftliche Methoden unterziehen.

Wir kommen nun schlie§lich zu einem Punkt, den wir nur zšgernd ansprechen, da er unmittelbar das Gewissen betrifft. Unter den vielen PrŸfungen, die die Welt bereit hŠlt, begegnen religišse FŸhrer, und das Ÿberrascht nicht, besonders oft der Versuchung, in Glaubensfragen Macht auszuŸben. Niemand, der lange Jahre ernsthaftem Nachdenken und dem Studium der Schriften einer der gro§en Religionen gewidmet hat, muss erst an die hŠufige Beobachtung erinnert werden, dass Macht korrumpieren kann, und dies um so mehr, je weiter sie wŠchst. Die ungerŸhmten inneren Siege, die durch alle Zeitalter hindurch von zahllosen Geistlichen auf diesem Felde gewonnen wurden, sind zweifellos eine der wichtigsten Quellen fŸr die schšpferische Kraft der Religion und mŸssen zu ihren hšchsten Auszeichnungen gezŠhlt werden. Im selben Ausma§ erliegen andere religišse FŸhrer den Verlockungen weltlicher Macht und ihrer Vorteile, was einen fruchtbaren NŠhrboden bereitet fŸr Zynismus, Korruption und Verzweiflung bei allen, die solches sehen. Was dies fŸr die FŠhigkeit religišser FŸhrer bedeutet, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu diesem Zeitpunkt der Geschichte nachzukommen, bedarf keiner nŠheren AusfŸhrung.

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Weil sie sich mit der Veredelung des Charakters und der Harmonisierung von Beziehungen befasst, diente die Religion schon immer als hšchste AutoritŠt, wenn es darum ging, dem Leben Sinn zu geben. In jedem Zeitalter hat sie das Gute gefšrdert, das Schlechte getadelt und dem Blick aller, die zu sehen gewillt waren, eine Vision bis dahin unausgeschšpfter Mšglichkeiten aufgetan. Durch ihren Rat wurde die vernunftbegabte Seele ermutigt, von der Welt gesetzte Grenzen zu Ÿberwinden und sich selbst zu erfŸllen. Gleichzeitig war die Religion, wie der Name schon sagt, die mŠchtigste Kraft, die unterschiedliche Všlker in immer grš§eren und komplexeren Gesellschaften miteinander verband, durch welche die so freigesetzten verschiedenen FŠhigkeiten Ausdruck finden konnten. Der gro§e Vorteil des gegenwŠrtigen Zeitalters ist der Blickwinkel, der es der gesamten Menschheit ermšglicht, diesen Zivilisationsprozess als ein einziges PhŠnomen zu sehen: die immer wiederkehrende Begegnung unserer Welt mit der Welt Gottes.

Von dieser Sichtweise inspiriert hat die Bah‡Õ’-Gemeinde sich von Anfang an entschieden fŸr interreligišse AktivitŠten eingesetzt. Neben der wertvollen Zusammenarbeit, die solche AktivitŠten entstehen lassen, sehen die Bah‡Õ’ im BemŸhen verschiedener Religionen, einander nŠher zu kommen, eine Antwort auf den gšttlichen Willen fŸr eine Menschheit, die in ihr kollektives Reifealter eintritt. Die Mitglieder unserer Gemeinde werden weiterhin in jeder uns mšglichen Weise helfen. Unseren Partnern bei diesen gemeinsamen BemŸhungen sind wir es jedoch schuldig, klar unsere †berzeugung darzulegen, dass der interreligišse Dialog, wenn er einen echten Beitrag zur Heilung der Leiden, die eine verzweifelte Menschheit quŠlen, leisten will, sich nun ehrlich und ohne weiter auszuweichen der praktischen Bedeutung jener umfassenden Wahrheit zuwenden muss, die diese Bewegung erst entstehen lie§: dass es nur einen Gott gibt, und dass, jenseits aller Unterschiede in kultureller AusprŠgung und menschlicher Interpretation, auch die Religion nur eine ist.

Mit jedem neuen Tag wŠchst die Gefahr, dass die auflodernden Feuer religišser Vorurteile einen Weltbrand entfachen, dessen Folgen sich niemand ausmalen kann. Eine solche Gefahr kšnnen die Regierungen nicht ohne Hilfe Ÿberwinden. Auch sollten wir uns nicht vormachen, dass blo§e Aufrufe zu gegenseitiger Toleranz Feindseligkeiten auslšschen kšnnen, die fŸr sich beanspruchen, Gottes Segen zu besitzen. Die Krise erfordert von den FŸhrern der Religionen einen Bruch mit der Vergangenheit, so entschieden wie jene, die der Gesellschaft den Weg eršffnet haben, ebenso zerstšrerische Vorurteile der Rasse, des Geschlechts oder der Nation zu Ÿberwinden. Wenn Beeinflussung in Gewissensangelegenheiten Ÿberhaupt gerechtfertigt werden kann, dann nur wenn sie dem Wohlergehen der Menschheit dient. An diesem grš§ten Wendepunkt in der Geschichte der Zivilisation kšnnte nicht klarer sein, was solcher Dienst verlangt. ÒDie Wohlfahrt der Menschheit,Ó drŠngt Bah‡ÕuÕll‡h, Òihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, ehe nicht ihre Einheit fest begrŸndet ist.Ó

[signed:] DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT

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