Auslegung und das Hütertum
Das Thema dieser Sitzung ist, wie Sie Ihren Programmen entnehmen können, "Auslegung und das
Hütertum". Das scheint ein einfacher Stoff zu sein, aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde
mir, daß die Bahá'í-Auffassung von Auslegung sich in vielerlei Hinsicht von der in früheren Sendungen vor-
herrschenden unterscheidet, und daß es sogar innerhalb des Glaubens viele falsche Auffassungen gibt, die
in der Tat Prüfungen für die Gläubigen hervorrufen können.
Hier möchte ich gerne einen Moment vom Thema abschweifen, um eine persönliche Anmerkung über die
Koexistenz von göttlicher Autorität und individueller Freiheit der Äußerung zu machen, die eine so charakte-
ristische Eigenschaft des Glaubens ist. Jemand - ich glaube, es war ein Pilger - sagte mir einmal, daß er
meine, daß es für die Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit unmöglich gewesen wäre, zu
sagen, was sie denken, wenn der Hüter in ihrer Besprechung gesessen hätte. Ich hatte nur das Vorrecht
weniger Stunden in der Gegenwart des Hüters, aber ich stimme dieser Ansicht nicht zu. Ich glaube, daß man
sich in seiner Gegenwart nicht gewagt hätte, irgend etwas anderes zu tun, als genau das zu sagen, was man
dachte. Ich werde auch in dieser Ansicht bestätigt durch das Handeln der Hände der Sache Gottes seit der
Entstehung des Hauses der Gerechtigkeit - der Hände, die so eng mit dem geliebten Hüter zusammengear-
beitet haben. Sie haben in all ihren Beratungen mit dem Universalen Haus der Gerechtigkeit immer völlige
Loyalität und Offenheit gezeigt, und diese Kombination war eine enorme Quelle der Kraft und Inspiration für
das Universale Haus der Gerechtigkeit.
Daher glaube ich, daß die Gegenwart einer Quelle göttlicher Führung im Glauben, die eine Garantie
für seine Einheit und die Erhaltung der Reinheit seiner Lehren ist, keinen Widerspruch zum Prinzip der Ge-
dankenfreiheit darstellt. Ich bezweifle, daß es möglich ist, ein völlig klares Verständnis über das Thema der
Auslegung zu erlangen, aber vielleicht können wir uns bis zu einem gewissen Grad annähern.
Ich schlage vor, das Thema in drei Hauptpunkte zu unterteilen:
1. Die Unterscheidung zwischen der Auslegung, die wir alle vornehmen, wenn wir über irgendein Thema
diskutieren, und die durch den Hüter ausgeübte maßgebende Auslegung
2. Die Unterscheidung zwischen maßgebender Auslegung und göttlich geführter Gesetzgebung
3. Aspekte der Funktion des Auslegers wie sie von Shoghi Effendi ausgeübt wurde. Dieser Teil des Themas
ist unser Hauptanliegen in diesem Seminar und daher werde ich es auch in eine Anzahl von Aspekten un-
terteilen, obwohl ich betonen muß, daß dies eine völlig willkürliche Unterteilung ist und jede Art von Aus-
legung in die andere hineinspielt. Sie sind:
3.1 Festlegung der Bedeutung bestimmter Texte
3.2 Erklärung der durch die Texte übermittelten Gedanken, d.h. die Erläuterung ihrer Bedeutung
3.3 Entfaltung von keimhaft angelegten Aussagen in der Heiligen Schrift
3.4 Beispiele für die Verweigerung, einen Text weiter zu erläutern, oder Aussagen zu nicht im Text behandel-
ten Themen zu machen
3.5 Festlegung des Sphäre der maßgebenden Auslegung
3.6 Erhellung der Gesamtbedeutung der Offenbarung
3.7 Die Macht zu einem langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge von Generationen hinweg
1. Aspekte der Auslegung
Es ist selbstverständlich ohne Auslegung unmöglich, irgendeine Aussage, ob geschrieben oder mündlich, zu
verstehen oder darüber zu sprechen. Der Offenbarer als Manifestation Gottes hat die übermenschliche Auf-
gabe, der Menschheit Wahrheiten zu vermitteln, die sie noch nicht versteht, und sie zu einer Art des Verhal-
tens zu erziehen, die sie noch nicht erreicht hat. Um dies zu tun, muß Er die begrenzten Sprachen gebrau-
chen, die um Ihn herum gesprochen werden, mit all ihren angesammelten Bedeutungen und Begriffsinhalten.
Er gebraucht nicht nur Worte, Metaphern und Gleichnisse mit höchster Geschicklichkeit, sondern verwandelt
alte Formen und Begriffe und indem Er sie benutzt, haucht Er ihnen eine neue Bedeutung ein. Daher müssen
wir bei dem Versuch, uns über die Offenbarung zu unterrichten, drei Bedeutungen in jedem Text, den wir
lesen, studieren: Die Bedeutung der Worte selbst; die Bedeutung, die sie für die besondere Person gehabt
haben werden, an die die Manifestation Gottes sich richtete; und auch die neue Bedeutung oder die Bedeu-
tungen, die Er zu vermitteln suchen wird. Mit anderen Worten: Wir müssen drei Fallstricke meiden: Einer ist
der, die offensichtliche Bedeutung der Worte zu ignorieren (In der Vergangenheit waren Leute manchmal so
erpicht darauf, die esoterische Bedeutung eines Textes zu exzerpieren, daß sie für die klare Bedeutung der
Worte blind waren); der zweite ist der, die Worte aus ihren historischen und gesellschaftlichen Zusammen-
hängen herauszureißen; der dritte ist zu denken, daß die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhän-
ge selbst uns ein Verständnis der offensichtlichen Bedeutung und dessen, was die Manifestation sagt, er-
möglichen.
Ein gutes Beispiel, um dies zu zeigen, ist Bahá'u'lláhs Sendschreiben an einen Arzt. Einige Abschnitte sind
sehr einfach. Um andere zu verstehen, müssen wir uns der Warnung des Hüters erinnern, daß dieses Send-
schreiben an einen Arzt der alten medizinischen Schule gerichtet war, und daß wir ohne ein Verständnis der
Terminologie dieser Schule nicht verstehen können, was Bahá'u'lláh sagte. Indessen ist klar, daß Bahá'u'lláh
dem Arzt nicht nur erzählte, was der schon wußte. Er erklärte ihm in einer für ihn verständlichen Terminolo-
gie gewisse Wahrheiten über Gesundheit und Heilung, die er vermitteln wollte.
Der historische und gesellschaftliche Zusammenhang ist nicht der einzige Zusammenhang einer Textstelle.
Es gibt auch den Zusammenhang mit den anderen Lehren. In "Ährenlese", Abschnitt 127 finden wir die fol-
genden Worte Bahá'u'lláhs:
"Wenn es euer Wunsch ist, o ihr Menschen, Gott zu erkennen und die Größe Seiner Macht zu entdecken,
dann schaut auf Mich mit Meinen eigenen Augen und nicht mit den Augen eines anderen außer Mir. Nie wer-
det ihr sonst imstande sein, Mich zu erkennen, selbst wenn ihr über Meine Sache nachdenkt, solange Mein
Reich dauert, und über alles Erschaffene nachsinnt durch alle Ewigkeit Gottes, des höchsten Herrn über alle,
des Allgewaltigen, des Allewigen, des Allweisen."
Dies impliziert, glaube ich, unter anderem, daß der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Schriften die
Schriften selbst sind, daß wir sie nicht bloß von unserem Standpunkt aus lesen müssen und versuchen zu
sehen, was wir verstehen können, sondern sie von Bahá'u'lláhs Standpunkt aus betrachten müssen: Was
versucht Er zu vermitteln? Und zu welchem Zweck? Es ist nicht gut, einen Text zu nehmen und zu versu-
chen, ihn isoliert von allen anderen Lehren, die sich darauf beziehen mögen, zu verstehen. Daher müssen
wir jede Aussage in Beziehung zur gesamten übrigen Offenbarung setzen und versuchen zu verstehen, was
Bahá'u'lláh zu vermitteln bestrebt ist. Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist zu akzeptieren, daß wir, da wir
niemals die ganze Offenbarung umfassen können, immer vorsichtig mit unserem Verständnis sein müssen,
sogar wenn es uns völlig klar zu sein scheint. Ein schlagendes Beispiel für die Wichtigkeit dessen kommt im
Kitáb-i-Aqdas vor, wo wir die Verse finden: "Gott hat euch die Ehe verordnet" und "Tretet in den Stand der
Ehe, o Menschen, damit ihr einen hervorbringt, der Meiner gedenken wird; Dies ist Mein Gebot an euch,
gehorcht ihm zu eurem eigenen Beistand". Man würde denken, daß dies sehr klare Aussagen sind, die keine
Auslegung zulassen. Es scheint auf den ersten Blick ein unzweideutiger, verbindlicher Befehl zu sein. Einer
der Gläubigen hat jedoch Bahá'u'lláh selbst über diese Textstelle befragt und ob sie bedeute, daß die Ehe
obligatorisch sei. Bahá'u'lláh antwortete: "Dies ist nicht obligatorisch." Ich führe dies als Beispiel an, weil es
manchmal in Diskussionen über ein Thema eine große Versuchung für Bahá'í ist, dogmatisch (und manch-
mal hitzig!) zu erklären: "Das können Sie nicht sagen! Hier sind die Worte des Textes und sie sind ziemlich
klar!"
Individuelle Auslegung dieser Art ist nicht nur unvermeidlich. Sie ist wesentlich, wenn wir die Tiefe unseres
Verständnisses erweitern und gleichzeitig seine ständig vorhandenen Begrenzungen anerkennen wollen. Ich
glaube, daß die Kombination von Ermutigung zu individuellem Denken mit dem Vorhandensein eines unfehl-
baren Mittelpunktes maßgebender Auslegung eine der einzigartigen Stärken dieser Sendung ist, deren Aus-
wirkungen sogar während der Abwesenheit des Hüters andauern. Die außerordentliche Tatsache, daß es im
Prinzip einen Mittelpunkt solcher Führung in der Sache gibt, und daß jede andere Auslegung der Maßgeb-
lichkeit beraubt ist, lehrt uns eine Bescheidenheit in unserem Denken, die eine der stärksten Bande der Ein-
heit ist.
Obwohl die individuelle Auslegung nicht maßgeblich ist, sollte uns das nicht zu dem Extrem führen daraus zu
folgern, daß die von Einzelnen gegebenen Erklärungen nicht inspiriert sein könnten. In einem Sendschrei-
ben, daß als Abschnitt 203 in "Briefe und Botschaften" von Abdul-Bahá veröffentlicht ist, schrieb der Meister:
"Die Gesegnete Schönheit hat diesem Diener prophezeit, daß sich Seelen erheben werden, die wahre Ver-
körperungen der Führung sind, Banner der himmlischen Heerscharen, Fackeln der Einheit Gottes und Sterne
Seiner reinen Wahrheit, strahlend in den Himmeln, wo Gott allein regiert. Sie werden die Blinden sehend und
die Tauben hörend machen; sie werden die Toten zum Leben erwecken. Allen Völkern der Erde werden Sie
entgegentreten und ihre Sache mit den Beweisen des Herrn der sieben Sphären vertreten."
Es wäre daher ein Fehler anzunehmen, daß die Bahá'í-Offenbarung Gläubiger beraubt sein wird, die uns
tiefgründigere Einsichten in die Bedeutung der Lehren des Glaubens geben könnten. Aber keine dieser Arten
von Auslegung, egal wie gelehrt der sie zum Ausdruck bringende Gläubige auch sei, ist maßgebend. Obwohl
sie uns aufklären können, ist da immer die Unvermeidbarkeit eines gewissen Grades an Fehlerhaftigkeit.
Laßt uns nie das Beispiel der christlichen Sendung vergessen. Das Evangelium ist voll mit Prophezeiungen
und Warnungen Jesu über seine Wiederkunft. Christen haben sich fast 2000 Jahre lang darum bemüht, sie
zu verstehen. Die Gelehrten haben viele Auslegungen und Übereinkünfte darüber erarbeitet, was geschehen
würde, aber ich wüßte von keiner, die zu dem rechten Schluß gekommen wäre, nämlich daß sie das Er-
scheinen einer weiteren Manifestation Gottes ankündigen.
Maßgebliche, göttlich geführte Auslegung gehört einer völlig anderen Ordnung an, als wir in Betracht gezo-
gen haben, und ist ausschließlich die Aufgabe des Meisters und des Hüters.
2. Maßgebende Auslegung und göttlich geführte Gesetzgebung
Das Vorrecht der maßgebenden Auslegung, daß von Bahá'u'lláh erst Ábdu'l-Bahá und nach ihm dem Hüter
verliehen wurde, liegt im Herzen des Bundes.
In früheren Sendungen wurde keine klare Unterscheidung zwischen Auslegung und Gesetzgebung
getroffen. Die zwei Aufgaben waren unter einem einzigen Vorgang des Herleitens von Schlußfolgerungen
und der Führung in neuen Situationen aus dem Studium der heiligen Schriften zusammengefaßt. Weil man
glaubte, diese Herleitungen seien ein Vorgang des Deutlichmachens dessen, was unausgesprochen im Text
inbegriffen war, waren sie praktisch unveränderlich und verwandelten sich in eine massive Häufung von
Dogmen, Ritualen und Gesetzen. Im Judentum wurden sie in erster Linie zu einer Vielzahl von minutiösen
Verordnungen, die jeden Moment und jeden Aspekt im Leben einer Person regulierten, und denen zu gehor-
chen als identisch mit dem Gehorsam vor Gott begriffen wurde. Das Christentum befreite sich weitgehend
davon, ersetzte sie aber durch die Errichtung eines gewaltigen Bauwerks von Dogmen, an die zu glauben als
wesentlich für das ewige Heil der Seele aufgefaßt wurde, und das zu solchen Mißbräuchen wie dem Ablaß-
handel führte, der die Rebellion Martin Luthers und der protestantischen Reformation heraufbeschwor.
In dieser Sendung haben wir zwei getrennte, göttlich geführte Gewalten, eine um maßgebende Auslegung zu
schaffen, und eine für ergänzende Gesetzgebung. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden
Aufgaben wurde durch das Universale Haus der Gerechtigkeit in seinem Brief vom 9. März 1965 erklärt. Auf
den Seiten 52 und 53 von "Wellspring of Guidance" findet sich die folgende Textstelle:
"Der Hüter offenbart, was die Schrift bedeutet; seine Auslegung ist eine Darlegung der Wahrheit, die nicht
abgeändert werden kann. Dem Universalen Haus der Gerechtigkeit wurde, in den Worten des Hüters, das
alleinige Recht der Gesetzgebung über Gegenstände verliehen, die nicht ausdrücklich in den Bahá'í-
Schriften offenbart sind. Seine Verkündigungen, welche durch das Universale der Gerechtigkeit selbst abge-
ändert oder aufgehoben werden können, dienen der Ergänzung und bringen das Gesetz Gottes zur Anwen-
dung. Obwohl nicht mit der Aufgabe der Auslegung betraut, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit doch
in einer Position, um alles nötige zur Errichtung der Weltordnung Bahá'u'lláhs auf dieser Erde zu tun."
Eine wichtige Konsequenz dieser Unterscheidung ist, daß es, wenn wir eine Frage darüber haben, was wir
glauben sollen, oder was der Text bedeutet, und dies nicht im Text selbst für uns beantwortet ist, während
der Abwesenheit des Hüters niemanden gibt, der uns maßgebend und verbindlich antworten könnte. Wenn
wir dagegen in irgendeinem Fall wissen wollen, was wir tun sollen, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit
voll ermächtigt, göttliche Führung bezüglich dieses Gegenstandes zu geben.
Zwei andere wichtige Konsequenzen sind das Verbot der Formulierung von Dogmen und Bekenntnissen im
Glauben (die gibt es schließlich, aber die Menschen versuchen, die göttlichen Wahrheiten in einem Paket
zusammenzuschnüren und sind für immer zur Unzulänglichkeit verdammt), und die Erkenntnis des tiefgrei-
fenden Unterschiedes zwischen den wirklich von der Manifestation Gottes gegebenen Gesetzen, die nur von
einem weiteren Propheten geändert werden können, und jenen, die zu erlassen dem Universalen Haus der
Gerechtigkeit eingegeben ist, und die das Haus der Gerechtigkeit selbst aufheben kann. Dies gibt dem Ba-
há'í-Rechtssystem einen beispiellosen Grad an Elastizität.
Es gibt natürlich eine hierarchische Beziehung zwischen der Auslegung des Hüters und der Gesetzgebung
des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die höchste Autorität im Glauben ist das Wort Gottes, und alle
Gesetzgebung ist durch diese Autorität begrenzt. Der maßgebende Ausleger ist das lebende Mundstück
dieses Wortes, der Erklärer seiner wahren Bedeutung. Daher hat er natürlich die Autorität, den Bereich der
Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit festzulegen. Shoghi Effendi hat kategorisch erklärt,
daß weder der Hüter noch das Universale Haus der Gerechtigkeit sich jemals die Aufgabe des anderen an-
maßen werden. Beide stehen schließlich unter dem Schutz und der unfehlbaren Führung des Báb und Ba-
há'u'lláhs. Daher können wir sicher sein, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit auch in Abwesenheit
des Hüters keine Gesetze außerhalb seines Geltungsbereiches erlassen wird. Ich halte es dagegen für mög-
lich, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit in seiner Vorsicht, seine Grenzen nicht zu überschreiten,
sehr wohl davon Abstand nehmen könnte, Gesetze auf Gebieten zu erlassen, von denen der Hüter uns ge-
sagt haben könnte, daß sie in seine Sphäre gehören, wenn er bei uns wäre. Es gibt zwei interessante Bei-
spiele für das, was ich meine.
Wie Sie wissen, ist sowohl im Christentum als auch im Bahá'í-Glauben Mord verboten. Es ergibt sich dann
die Frage, ob Abtreibung und Euthanasie zulässig sind oder nicht. Die katholische Kirche hat beschlossen,
daß das Gesetz eindeutig ist, "Du sollst nicht töten", und daß daher beides verboten ist. Im Bahá'í-Glauben
haben wir aber Stellungnahmen des Hüters zu beiden Fragen. In beiden Fällen sagt er, daß sich nichts be-
stimmtes dazu in den Schriften findet - was impliziert, daß sie nicht ganz dasselbe sind wie Mord. Es folgen
drei Stellungnahmen im Auftrag des Hüters, die sich auf diese Themen beziehen:
Am 25. August 1939: "Die Praxis der Abtreibung - die absolut kriminell ist, da sie die vorsätzliche Zerstörung
von Leben einschließt - ist in der Sache verboten. Hinsichtlich 'Gnadentod' ...; auch dies ist eine Angelegen-
heit, über die das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetzte erlassen müssen wird."
Am 13. November 1940: "Hinsichtlich der Praxis der Abtreibung; da zu diesem Thema keine besondere An-
spielung in den Schriften Bahá'u'lláhs gemacht wurde, obliegt es dem Universalen Haus der Gerechtigkeit,
dazu entscheidend Stellung zu nehmen. Es kann indessen kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Praxis,
da sie die Zerstörung menschlichen Lebens einschließt, energisch verurteilt werden muß."
Am 20. Oktober 1953: "Da sich nichts bestimmtes zum Thema Abtreibung in den Bahá'í-Schriften findet, wird
sich folglich das Universale Haus der Gerechtigkeit damit auseinandersetzten müssen, sobald diese Körper-
schaft gebildet worden ist."
Auf der Grundlage dieser drei Stellungnahmen hat das Universale Haus der Gerechtigkeit verfügt,
daß das Vornehmen einer Abtreibung nur zu dem Zweck, sich eines unerwünschten Kindes zu entledigen,
unbedingt verboten ist, aber es mag Fälle geben, in denen Abtreibung erlaubt sein könnte, und hierfür muß
das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetze erlassen. Solange ein solches Gesetz noch aussteht, ist die
Entscheidung unter Berücksichtigung der o.g. Prinzipien und des fachkundigen ärztlichen Rates dem Gewis-
sen des Einzelnen überlassen.
Ein anderes Gebiet betrifft die Pflichtgebete. In der dreizehnten Frohen Botschaft sagt Bahá'u'lláh: "Alle
Staatsgeschäfte sind dem Haus der Gerechtigkeit vorzulegen; aber Gottesdienste müssen so gehalten wer-
den, wie es Gott in Seinem Buch offenbart hat". Als einmal ein Gläubiger das Universale Haus der Gerech-
tigkeit bat, ein Gebet zu bestimmen, das für das Haus der Gerechtigkeit gesprochen werden könnte, bezog
es sich auf diesen Text und lehnte eine solche Bestimmung ab. Man könnte auch meinen, daß dieser Text
es dem Haus der Gerechtigkeit unmöglich gemacht hätte, irgendwelche Fragen über Pflichtgebete zu beant-
worten, aber der Hüter schrieb, daß Einzelheiten bezüglich der Pflichtgebete, die unklar sind, durch das Uni-
versale Haus der Gerechtigkeit zu entscheiden sind, und bestimmte damit genau, welcher Aspekt dieses
Gegenstandes innerhalb seines Gesetzgebungsbereiches liegt.
3. Die Aufgabe der Auslegung
Die Art und Weise, in der Shoghi Effendi seine Aufgabe als Ausleger wahrgenommen hat, ist höchst erhel-
lend, sowohl im Bezug auf unser Verständnis darüber, was maßgebende Auslegung impliziert, als auch im
Hinblick auf unser Verständnis von der Unfehlbarkeit des Heiligen Textes, ein Gegenstand, der in früheren
Sendungen heftig mißverstanden wurde. Die nun folgenden Zitate stammen aus Briefen von Sekretären des
Hüters, die in seinem Auftrag geschrieben wurden.
3.1 In einigen Fällen gab Shoghi Effendi einfach klare Stellungnahmen darüber ab, was ein bestimmter Ab-
schnitt bedeutet, zum Beispiel:
- Hinsichtlich Ihrer Fragen: Was der Meister mit den von Ihnen zitierten Worten meinte ist einfach, das Freu-
de uns mehr Freiheit zur Gestaltung gibt. Wenn die Propheten, der Meister selbst und der Hüter weniger
Probleme und Sorgen gehabt hätten, dann hätten Sie sehr viel mehr Schöpferkraft für die Sache hervorbrin-
gen können. Wenn er sagte, "wachse, um ein fruchtvoller Baum zu werden", meinte er, daß wir, indem wir
die Last des Hüters erleichtern und so stark wie möglich versuchen, unseren Anteil an der Arbeit des Glau-
bens zu tun, Shoghi Effendi helfen würden, seine volle Macht als Hüter zu entfalten, und durch den Bund
würde die Sache ihren Schatten über alle Menschen ausbreiten. Dies haben wir in den letzten 30 Jahren
geschehen sehen, aber das heißt nicht, daß wir nicht aufs Äußerste versuchen müssen, ihm durch unser
Leben des Dienstes zu helfen. (05.10.1952 - Sekr.)
- Das im Sendschreiben des Meisters erwähnte "Rheuma" ist symbolisch gemeint. Er meint, daß die Men-
schen eine geistige Erkältung haben und die göttlichen Düfte nicht riechen können, und daß die Gläubigen
die Ärzte sein müssen, die Menschen von diesem Zustand zu heilen. Er bezieht sich nicht auf körperliche
Leiden. (26.03.1950 - Sekr.)
- Der Meister benutzt den Ausdruck "die göttliche Wirklichkeit ist geheiligt über Einheit", um uns nachdrück-
lich die Tatsache einzuprägen, daß die Gottheit nicht erkannt werden kann und es unmöglich ist, Sie zu
bestimmen. Wir können sie nicht in Begriffe fassen wie Einheit und Vielheit, die wir auf Dinge anwenden, die
wir kennen und erfahren können. Er gebraucht die Methode, die Betonung zu übertreiben, um seinen Ge-
danken zu verdeutlichen, daß wir die Sonne indirekt durch ihre Strahlen kennen, die Gottheit durch die Mani-
festation Gottes. (20.02.1950 - Sekr.)
- Gl. 160 - Die menschliche Seele ist in dem Sinne ein "Vorbote", als daß sie uns eine leise Ahnung von der
Existenz anderer Welten gibt, eine Andeutung der geistigen Welten im Jenseits. (25.05.1938 - Sekr.)
- Die "Feuerflamme" im Tablet an Ahmad sollte bildlich verstanden werden. Mit anderen Worten: Wir dürfen
nicht den schlechten Einfluß von Bundesbrechern oder Feinden des Glaubens tolerieren, sondern müssen
kompromißlos in unserer Loyalität sein, darin, sie zu entlarven und den Glauben zu verteidigen. (21.07.1955 -
Sekr.)
- Der Ausdruck "Er, der sich in der Entfernung zweier Bogenlängen befindet" in "Ährenlese" Nr. 29 sollte nicht
wörtlich genommen werden, sondern hat eine allegorische Bedeutung, und deutet dichte Nähe an.
(12.04.1938 - Sekr.)
- Verborgenen Worte, persisch 79 - Der Ausdruck "Meine schwarzen Locken zu kämmen, und nicht, Meine
Kehle damit zu verwunden" ist eine allegorische Warnung Bahá'u'lláhs davor, etwas von dem zu mißbrau-
chen, was Er der Welt geschenkt hat (06.09.1937 - Sekr.)
In Kalimát-i-Firdawsíyyih sagt Bahá'u'lláh: "Wir bestimmten bereits, daß die Menschen sich in zwei Sprachen
verständigen sollten; aber es müssen Anstrengungen unternommen werden, sie auf eine zu beschränken,
ebenso die Schriftarten der Welt, damit die Menschen nicht mit dem Erlernen verschiedener Sprachen ihr
Leben verschwenden und vergeuden. So wird schließlich die ganze Erde als eine Stadt und ein Land be-
trachtet." Ein Gläubiger fragte den Hüter, in welcher Beziehung dies zu Bahá'u'lláhs Gebot steht, daß eine
internationale Hilfssprache ausgewählt und in allen Schulen zusätzlich zur Muttersprache unterrichtet werden
soll. Die Antwort war:
- Bahá'u'lláh bezieht Sich auf dem achten Blatt des Erhabensten Paradieses auf eine Zeit in ferner
Zukunft, wenn die Welt wirklich ein Land, und eine einzige Sprache eine fühlbare Möglichkeit geworden ist.
Es widerspricht nicht Seinen Anweisungen bezüglich der sofortigen Notwendigkeit einer Hilfssprache.
(16.03.1955 - Sekr.)
Aus diesen besonderen Auslegungen lernen wir nicht nur, was ein bestimmter Abschnitt bedeutet, sondern
wir erhalten Anschauungsunterricht im Studium der Schriften. Wir sehen, daß einige Abschnitte wörtlich zu
nehmen sind, andere allegorisch. Einige sind sogar stilistische Übertreibungen, um eine beabsichtigte Wir-
kung hervorzurufen, und einige beziehen sich auf eine unterschiedliche Stufe in der Entwicklung der Sen-
dung als andere.
3.2 Manchmal ging der Hüter erheblich über eine kurze Auslegung des fraglichen Abschnittes hinaus, so
wie in dieser wunderschönen Beschreibung des kurzen Pflichtgebetes:
- Die Bedeutung des von Herrn Lacey in seinem Brief erwähnten kurzen Gebetes ist einfach, daß Bahá'u'lláh
in einen kurzen Satz das wahre Wesen des Lebens hineingetan hat, was bedeutet, daß wir von einem Vater
kommen und auf der Straße des Lebens durch Prüfungen, Versuchungen und Erfahrungen gehen, damit
unsere Seelen wachsen mögen, und daß es der Grund für unser Sein ist, zu lernen, unseren Schöpfer zu
verstehen. Während wir dies tun, werden wir unsere Liebe zu ihm vermehren und Ihn anbeten.
Dies ist wirklich die tiefste Freude, eine jegliche Seele erfährt. Alle anderen sind nur Widerspiegelungen
dieser Freude, der Freude die wir erfahren, wenn wir den Gott anbeten, der uns gemacht hat, unseren
Himmlischen Vater . (05.10.1953 - Sekr.)
3.3 Manchmal entfaltete er einen ganzen Gedankengang aus nur einem keimhaft angelegten Hinweis in den
Schriften. Es gibt zum Beispiel seine Festlegung des Námús-i-Akbar (des Größten Gesetzes) als der Bildung
der Nationalen Geistigen Räte, und des Námús-i-A'zám (des Größten Gesetzes) als der Bildung des Univer-
salen Hauses der Gerechtigkeit. Die Entfaltung der Institution der Hände der Sache Gottes und ihrer Hilfsäm-
ter ist zweifellos ein weiteres Beispiel des selben Vorgangs.
3.4 Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele für Gegenstände, deren Auslegung er ablehnte, da hierzu
nichts genaues in den Texten zu finden war. Zum Beispiel:
- Wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, welche Wissenschaft Bahá'u'lláh meinte, als er sagte, daß sie
Angst weitgehend beseitigen würde. Da dies an keiner anderen Stelle in den Lehren erwähnt wurde, kann
der Hüter nichts aus dieser Aussage erkennen. Dies zu tun würde von seiner Aufgabe als Ausleger wegfüh-
ren. Er kann nichts außer den gegebenen Lehren offenbaren . (30.08.1952 - Sekr.)
- Bezüglich der Punkte aus dem "Brief an den Sohn des Wolfes" (S. 32 der englischen Ausgabe), die Sie
erwähnen: Diese wurden, soweit wir wissen, niemals durch Bahá'u'lláh weiter ausgeführt; sie blieben verbor-
gen in den Reichen Seines unendlichen Wissens, ebenso wie die universale Sprache, die Er in dem selben
Buch erwähnt. (15.08.1942 - Sekr.)
- Bezüglich ihrer Frage hinsichtlich der Möglichkeit, künstliches Leben mit Hilfe eines Inkubators zu schaffen:
Dies ist im wesentlichen eine Frage, welche die Wissenschaft angeht und sollte als solche von Wissen-
schaftlern untersucht und studiert werden. (31.12.1937 - Sekr.)
3.5 Dies führt uns zur vom Hüter selbst getroffenen Festlegung der Grenzen der Sphäre seiner Unfehlbarkeit
als Ausleger.
- Shoghi Effendi ist nur unfehlbar, wenn er die Worte auslegt. Er hält es für Häresie, ihm eine Stufe gleich der
Bahá'u'lláhs oder auch nur des Meisters beizumessen. Sein Rang ist der des Hüters der Sache Gottes und
des Präsidenten des Hauses der Gerechtigkeit und des Auslegers der Worte und nichts anderes. Er lehnt
jeden anderen Rang gänzlich ab, den die Freunde ihm in ihrer großen Liebe fälschlicherweise zuschreiben
mögen. (18.09.1938 - Sekr.)
- Die dem Hüter eigenen Kräfte sind nicht unbegrenzt und unterscheiden sich von denen, die der Meister
besaß. Aber der Grad der Führung, den Gott ihm zu verleihen geruhen mag, ist unbegrenzt, da er von Ba-
há'u'lláh kommt, und nicht von ihm selbst. Jedes außerordentliche Anzeichen von Wissen oder Eingebung,
daß er bei einigen Gelegenheiten zeigen mag, darf nicht den ihm eigenen Kräften, denen des Meisters ver-
wandt, zugerechnet werden, sondern vielmehr einem Ausdruck des Willens Bahá'u'lláhs, ihn aus Ihm eige-
nen Gründen bei dieser Gelegenheit zu führen. Der Hüter ist der unfehlbare Ausleger des Wortes Gottes.
Seine Worte sind nicht die Worte Gottes selbst. Aber seine Auslegung ist so bindend wie das Wort.
(20.11.1941 - Sekr.)
- Der Hüter möchte von den Freunden mit Fakten versehen werden, wenn sie um seinen Rat bitten, denn
obwohl seine Entscheidungen von Gott geführt sind, ist er nicht, wie der Prophet, nach Belieben allwissend,
ungeachtet der Tatsache, daß er oft eine Situation oder Umstände erfühlt, ohne Einzelheiten davon zu ken-
nen. (04.03.1948 - Sekr.)
- Über etwas, was nicht in den Lehren zu finden ist, äußert sich der Hüter nicht. Dies sind Gegenstände für
Wissenschaftler und Fachleute. (29.09.1953 - Sekr.)
Eine Folge des Willens und Testamentes, die nicht aus den Augen verloren werden darf, ist der ausdrückli-
che Befehl an die Freunde, dem Hüter und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit zu gehorchen. Dies mag
mit ihren Aufgaben der göttlich geführten Auslegung und Gesetzgebung im Zusammenhang stehen, aber es
ist nicht unbedingt dasselbe und kann in anderem Zusammenhang Anwendung finden, wie sich an den fol-
genden Erklärungen aus im Auftrag Shoghi Effendis geschriebenen Briefen zeigt.
- Was den ausdrücklichen Befehl des Meisters hinsichtlich des Gehorsams gegenüber dem Hüter angeht,
muß klar gemacht werden, daß die Frage, zu entscheiden, welche Angelegenheiten Gehorsam gegenüber
dem Hüter verlangen, eine ist, über die der Letztgenannte allein das volle Recht zur gewissenhaften Ent-
scheidung hat. Mit anderen Worten obliegt es dem Hüter festzustellen, ob eine bestimmte Handlung schäd-
lich für die Sache ist oder nicht, und ob sie nach seinem persönlichen Eingreifen verlangt. Es ist nicht Sache
der einzelnen Gläubigen, die Sphäre der Autorität des Hüters einzuschränken, oder zu beurteilen, wann sie
dem Hüter gehorchen müssen und wann sie die Freiheit haben, sein Urteil zurückzuweisen. Solch eine Hal-
tung würde offensichtlich zu Verwirrung und Spaltung führen. Es liegt in der Verantwortung des Hüters als
ernanntem Ausleger der Lehren festzustellen, welche Angelegenheiten, da sie die Interessen des Glaubens
berühren, auf Seiten der Gläubigen völligen und uneingeschränkten Gehorsam seinen Anweisungen gegen-
über verlangen. (27.11.1933 - Sekr.)
- Die Unfehlbarkeit des Hüters ist auf Angelegenheiten beschränkt, die sich streng auf die Sache und die
Auslegung der Lehren beziehen; er ist keine unfehlbare Autorität für andere Gegenstände, wie Ökonomie,
Wissenschaft usw.. Wenn er meint, daß etwas Bestimmtes wesentlich für den Schutz der Sache ist, auch
wenn es etwas ist, was jemanden persönlich betrifft, ist ihm zu gehorchen, aber wenn er Ratschläge gibt, so
wie er ihn Ihnen in einem früheren Brief über Ihre Zukunft gegeben hat, sind sie nicht bindend; Sie sind frei,
dem zu folgen oder nicht, wie es Ihnen gefällt. (17.10.1947 - Sekr.)
- Künftige Hüter ... können die Auslegungen früherer Hüter nicht 'abschaffen', da dies nicht nur einen Mangel
an Rechtleitung, sondern Fehler bei ihrer Schaffung implizieren würde; indessen können sie frühere Ausle-
gungen ausführen und erklären, und sie können sicherlich frühere Regelungen abschaffen, die als eine vo-
rübergehende Notwendigkeit durch einen früheren Hüter niedergelegt wurden. (19.02.1947 - Sekr.)
3.6 Ich finde es nun sehr interessant, daß alle Zitate, die ich bisher angeführt habe, und die zum größten Teil
das sind, was in früheren Sendungen "Auslegung" umfaßte, in den Worten der Sekretäre des Hüters abge-
faßt sind. Er selbst widmete seine Aufmerksamkeit hauptsächlich einem anderen Bereich, nicht der Erklä-
rung unklarer Textstellen oder der Festlegung in den Schriften benutzter Begriffe, sondern der Erhellung der
Gesamtbedeutung der Offenbarung. Er pflegte bestimmte Themen zu nehmen, wie das Wesen und die Be-
deutung der Bahá'í-Lebensart, die Theorie und Funktion der Bahá'í-Institutionen, die Beziehung der Sache zu
aktuellen Ereignissen und ihr Platz in der Geschichte der Menschheit, die Stufe der Manifestationen Gottes
und ihre Beziehungen zueinander, die Stufe des Meisters, die Bestimmung gewisser Bahá'í-Gemeinden, den
richtigen Weg, die Sache zu lehren, und dann mit eigener Hand lange Briefe zu schreiben, die, wie das Band
einer Halskette, Zitate des Báb, Bahá'u'lláhs und des Meisters zusammenführten und die Quellen zeigten,
aus denen die Ideen hervorsprudelten, sowie die Folgen und die Wichtigkeit jener Textstellen und die Taten,
die sie von den Gläubigen forderten.
Dies ist in meinen Augen der größte Aspekt der Aufgabe des Hüters als Ausleger. Diese Offenbarung ist so
enorm, so tiefgreifend, daß die Gläubigen wie ein Nichts in den Untiefen dieses weiten Meeres kämpfen
müßten. Er war es, der den Fußstapfen des Meisters folgend diejenigen Aspekte der Sache, die unsere so-
fortige Aufmerksamkeit erfordern, zusammenzog, ihre Beziehung zu den weitreichenden Folgen der gesam-
ten Offenbarung zeigte, deren Reichtümer wir nur anfangen zu kosten, und uns einen Ausblick über unsere
Arbeit in der fernen Zukunft gab, bis ans Ende dieser Sendung und darüber hinaus.
3.7 In "Die Sendung Bahá'u'lláhs" schrieb Shoghi Effendi daß "ohne eine Institution" wie dem Hütertum "die
benötigten Mittel" dem Glauben "zu ermöglichen, einen langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge
von Generationen hinweg zu tun, gänzlich fehlen würde." Ich hörte, wie Freunde diese Stellungnahme in
Beziehung zu der Tatsache gesetzt haben, daß das Hütertum eine erbliche Institution ist, und daß es dieser
Faktor der Erblichkeit wäre, der die Mittel für den Glauben bereitstellen würde, diesen weiten Ausblick zu tun.
Ich habe indessen nirgendwo in den Schriften des Hüters gesehen, daß dieses Argument gebracht würde,
und es scheint mir, daß, obwohl natürlich ein Körnchen Wahrheit in dieser Annahme steckt, die bloße Tatsa-
che, daß jeder Hüter seinem Vater im Amt gefolgt wäre, keine angemessene Grundlage für die Ausübung
einer so anspruchsvollen Funktion zu sein scheint. Die Funktion des erleuchteten Auslegers impliziert dies
aber. Als Ausleger ist der Hüter in der Lage, nicht nur die äußerliche Bedeutung der Schriften zu verstehen,
sondern ihre inneren Zusammenhänge. Obwohl andere durch das Studium der Schriften und des Fortschrit-
tes der menschlichen Angelegenheiten eine Ahnung davon bekommen können, wie die Gesellschaft sich
entwickeln wird, konnte nur der Hüter allein das ganze Panorama der Absicht Bahá'u'lláhs klar schauen und
für uns den Weg skizzieren, den die Manifestation Gottes vor uns liegen sieht. Dies hat Shoghi Effendi tat-
sächlich in seinen Briefen zur Weltordnung getan und auch in "Gott geht vorüber". Das Letztgenannte ist
nicht nur ein Geschichtsbuch, so großartig es in dieser Hinsicht auch sein mag, es ist auch ein erleuchteter
Kommentar zu den Ereignissen, die es erzählt, es erhellt die Vergangenheit, fordert uns in der Gegenwart
heraus uns gibt uns eine Vision der Zukunft.
Diese Schriften wurden schon durch Beraterin Isobel Sabri in ihrem Vortrag vor zwei Wochen wundervoll
beschrieben.
(Von Ian Sample in einem Seminar am 18. Februar 1984 gehaltener Vortrag)
Hanno Lenk 07.12.1995, nicht überprüfte Übersetzung
Baháulláh, Boschaften aus Akká
Auslegung und das Hütertum D:\Winword2\BASTU\Ian_samp.doc (R.Zimmel 12.06.2003) Seite 8 von
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