Lesen: Peter Khan, Geistige Pruefungen


Geistige Prüfungen

Herausforderungen kommen nicht nur von außen, sondern auch aus der Gemeinde selbst

Die folgende Ansprache hielt Dr. Peter Khan, Mitglied des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, im Septem-
ber 1995 in der Foundation Hall des Hauses der Andacht in Wilmette, Illinois, USA. Seine Ausführungen zum
Thema können auf die Situation der Bahá’í in Europa übertragen werden.

Liebe Freunde!
Ich spreche für uns beide - Janet und mich - wenn ich der überwältigenden Freude Ausdruck verleihe, wieder
hier im Herzen der amerikanischen Bahá’í-Gemeinde zu sein, wo wir zwölf Jahre lebten. Es waren lehrreiche
Jahre, glückliche Jahre , in denen wir so viel über den Glauben und über das Wesen der Bahá’í-Gemeinde er-
fahren konnten. Unsere Herzen sind voll der Erinnerungen an jene Jahre, an die Tatkraft und Hingabe der groß-
artigen amerikanischen Bahá’í die wir damals das Vergnügen hatten zu kennen.
N,ieine' Ausführungen heute Abend sind eher persönlicher Natur. Denn ich spreche nicht im Auftrag, des U-
niversalen Hauses der Gerechtigkeit, sondern als individueller Bahá’í, der zur Zeit eben Mitglied jener Körper-
schaft ist. Alle Schlussfolgerungen heute Abend entspringen meinen eigenen Überlegungen.
Zu Beginn möchte ich unsere Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, auf das Shghi Effendi seit den frühesten
Jahren seiner Mission als Hüter des Glaubens immer wieder mit -großem Nachdruck- hingewiesen hat, so auch
in seinem alterersten Sendbrief an die Bahá’í der Vereinigten Staaten von Amerika und von Kanada. Er wieder-
holte es dann oft in nachfolgenden Briefen. Worum ging es da?
Shoghi Effendi prophezeite damals -73 Jahre sind seither ver2ancen - dass eine Zeit kommen werde, in der die
Gläubigen geprüft werden würden; Prüfungen, die sie eher intellektuell als physisch herausfordern würden. Er
erläuterte, dass diese Prüfungen den Zweck hätten, die amerikanischen Bahá’í zu läutern, uni ihnen mehr Aus-
strahlung als je zuvor zu verleihen.
Einige Jahre später griff Shoghi Effendi dieses Thema noch einmal auf. Er schrieb: "... und doch wie oft
scheinen wir die wiederholten Warnungen unseres geliebten Meisters zu vergessen, der - besonders gegen Ende
seiner irdischen Mission – mit Nachdruck auf die strengen geistigen Prüfungen verwies, die ganz unvermeidlich
über seine Geliebten im Westen hereinbrechen würden; läuternde, reinigende Prüfungen, die die Freunde auf
ihren edlen Lebenszweck vorbereiten sollen".
Dieser Hinweis - dass die amerikanischen Freunde sich in einer Vorbereitungsphase unvermeidbarer intellek-
tueller und geistiger Prüfungen befinden - erscheint immer wieder in seinen Sendschreiben. Das Universale
Haus der Gerechtigkeit unterstreicht ihn in einem Schreiben vom 19. Mai 1994 noch einmal und verleiht seiner
Hoffnung Ausdruck: „... möge den amerikanischen Bahá’í himmlische Stärke verliehen werden, damit sie wie-
der und wieder die läuternden Prüfungen bestehen, die ihnen von 'Abdu'l-Bahá vorhergesagt worden sind".
In einem der letzten Sendschreiben an die Bahá’í in Amerika deutet Shoghi Effendi die künftigen Ereignisse
an. Er weist auf Prüfungen von außen hin, denen die Bahá’í-Gemeinde unterzogen würde; dass der Glaube Ge-
genstand heftiger Angriffe kirchlicher Führer sein werde und religiöse Fundamentalisten auf die Vernichtung
des Glaubens hinarbeiteten.
In seinem letzten Schreiben vom September 1957 weist Shoghi Effendi jedoch auch klar und unmissverständ-
lich auf die geistigen Prüfungen hin, denen sich die Bahá’í in ihren eigenen Reihen werden stellen müssen. Er
weist auf Kräfte in der Gesellschaft hin, die mit ihrem schleichenden Gift die Festung der Sache unterwandern.
und er fordert die Freunde eindringlich auf, die Bahá’í-Gemeinde zu stärken. um auf den Kampf mit "diesen
frevelhaften Elementen die den Glauben von innen heraus zu unterminieren versuchen, vorbereitet zu sein.
Diese unerhört wichtigen Aussagen sind Teil von Shoghi Effendis Vermächtnis für die Bahá’í von Amerika.
Sie lassen eine Phase gewaltiger Herausforderungen, Schwierigkeiten und Prüfungen, aber auch großer Siege
erahnen. In ei nein der Statements, die ich gelesen habe, beschreibt Shoghi Effendi diese Prüfungen als ein Mit-
tel, wodurch die Freunde "heller denn je erleuchtet und strahlen" werden, und dass dies die Bahá’í-Gemeinde
von Amerika befähigen wird, in ihre glorreiche Bestimmung einzutreten, wie es die Schriften von Báb, Ba-
há'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá vorhersagen.
Liebe Freunde, ich bin nun schon seit. einiger Zeit zu der Überzeugung, gelangt, dass die Zeit der Prüfungen
nicht in irgendeiner fernen Zukunft liegt, sondern dass sie bereits gekommen ist, hier und heute. Was brachte
mich zu dieser Erkenntnis?

Es ist die Art und Weise der vorhergesagten Prüfungen. Wir Bahá’í kennen uns mit physischen Prüfungen be-
reits sehr gut aus. Unsere geliebten Freunde im Iran sind damit bestens vertraut. 150 Jahre lang musste der junge
Glaube in vielen Ländern physische Prüfungen erleiden: Folter, Einkerkerung, Märtyrertum, Enteignung und
Zerstörung von Haus und Hof, Vertreibung der Familien. Geistigen Prüfungen allerdings stehen wir weniger
erfahren gegenüber.
In seinem Schreiben vom Januar 1986 nimmt das Universale Haus der Gerechtigkeit Bezug auf die Tatsache,
dass der Glaube Gottes nun aus der Anonymität heraustritt. Mit anderen Worten: Er verlässt das erste Stadium
der sieben Stadien seiner Evolution - wie vom Hüter beschrieben -und tritt ein in das nächste Stadium, in eine
Phase der Verfolgung und Unterdrückung, in der die gesamte Bahá’í-Weltgemeinde mehr und mehr Erfahrun-
gen mit geistigen Prüfungen machen wird. Aus meiner Sicht werden wir schon heute mit geistigen Prüfungen
konfrontiert.
Was ist mit "geistiger Prüfung" gemeint? Das sind Vorgänge, die eine Zersetzung des Glaubens bewirken und
Unordnung und Unruhe in die Bahá’í-Gemeinde hineintragen. Ein gefährlicher Aspekt der geistigen Prüfung
besteht darin, dass wir - durch die Wertestandards der NichtBahá’í-Gesellschaft geblendet -nicht einmal mer-
ken, wenn wir gescheitert sind. Es könnte sein, dass wir diese Gefahren unterschätzen, indem wir in Selbstge-
fälligkeit verharren und die Prüfungen nicht als solche erkennen, bis es zu spät ist - wie ein Kriegsschiff, das
gerüstet und kampfbereit vor Anker liegt und wartet, während der Kampf vor seinen Augen stattfindet und be-
reits entschieden wird.
Ich glaube, dass für uns, die wir der amerikanischen Bahá’í-Gemeinschaft angehören, geistige Prüfungen aus
drei Aspekten bestehen. Ich möchte diese drei Aspekte, die für Amerika relevant sind, kurz aufzählen und sie
später detailliert erläutern.
Erstens: Wir werden geprüft, wenn wir uns in einem materialistischen Umfeld wie diesem vergeistigen wol-
len.
Zweitens: Wir werden geprüft, inwieweit wir uns für die Zukunft der Menschheit in einem Umfeld einsetzen,
das zunehmend von Apathie und Lethargie geprägt ist.
Und drittens: Wir werden auch geprüft, welche Einstellung und Haltung wir unseren sozialen Organisationen
und Institutionen gegenüber gewillt sind zu entwickeln.
Ich glaube, es sind diese drei Bereiche, in denen wir bereits heute geprüft werden. Werden wir bestehen oder
werden wir scheitern? Die Gemeinde wird bestehen. Die Bestimmung der Bahá’í-Gemeinde ist es, wunderbare
Dinge zu vollbringen. Aber wir, die einzelnen Bahá’í, sind Gegenstand der Prüfungen.




Prüfung Materialismus

Lassen Sie mich den ersten Punkt näher erläutern. Die erste geistige Prüfung besteht darin, sich der Heraus-
forderung zu stellen, in einem Umfeld, das zunehmend voreingenommen ist und vom Materialismus heimge-
sucht wird, einen Sinn für Geistigkeit zu entwickeln.
Die Schriften des Hüters sowie die Aussagen des Universalen Hauses der Gerechtigkeit in den vergangenen
Jahren appellieren immer wieder an die Freunde, ihr Leben zu vergeistigen, eine Lebensanschauung zu entwi-
ckeln, die alle wichtigen geistigen Dimensionen ihres Daseins - und auch ihr materielles Leben - umfasst..
Bahá’ú’lláh weist in seiner Lehre darauf hin, dass es unsere Pflicht als Gläubige ist, uns für die Vergeistigung
unseres Lebens einzusetzen. Wir haben Sein Versprechen, dass wenn wir dies tun, sich unsere Kräfte und Fä-
higkeiten vergrößern würden und dass wir auch nur auf diesem Weg zu Glück und Erfüllung gelangen können.
Wenn uns dies nicht gelingt - und wer kann schon sagen, ob wir die Prüfungen bestehen werden -, dann wird
die Religion zu einem bloßen Glaubensbekenntnis, zu Ritualen und leeren Handlungen degenerieren. Wenn wir
versagen, werden unsere Erkenntnisse zwangsläufig auf ausschließlich materialistische Belange des Weltge-
schehens und der Menschheitsentwicklung reduziert. Angst, Psychosen, die übermäßige Beschäftigung mit Äu-
ßerlichkeiten, Sorgen und Vorurteile unseren Mitmenschen gegenüber wären die Folge. Unsere Ba-
há’í-Weltanschauung bezüglich der geistigen Entwicklung der Menschheit ginge verloren und unser Gemeinde-
leben würde verkümmern zu rein ritualisierten Handlungen, es sei denn wir setzten den Prozess der Vergeisti-
gung sofort in Gang und trieben ihn mit Energie und Tatkraft voran.
Wo liegen die Schwierigkeiten? Ich glaube, die Tatsache, dass es auf der Welt erst sehr wenige Bahá’í gibt,
erschwert auch unsere persönliche Entwicklung, denn wir verbringen die meiste Zeit unseres Lebens mit Men-
schen, die nicht Bahá’í sind. Manche von ihnen sind durchaus wunderbare Menschen von angenehmer Art und
noblem Charakter, andere wiederum nicht. So sind wir mannigfaltigen Kräften und Einflüssen, Neigungen, In-
formationen und Meinungen ausgesetzt, die jedoch im wesentlichen alle materialistischer Natur sind und ganz
unbewusst unsere Sicht der Welt beeinflussen und formen.
Jahrzehnte-, ja sogar jahrhundertelang galt allgemein, dass der Mensch der materiellen Welt entsagen müsse,
wolle er Vergeistigung erlangen. Allein mit dem Verzicht auf jedweden materiellen Besitz und über Askese
sollte die geistige Entwicklung des Selbst zu erreichen sein. Diese irrige Vorstellung wurde durch die Offen-
barung Bahá’u’lláhs mit dem Gesetz des Huqúqu’lláh außer Kraft gesetzt.
Bahá’ú’lláh erläutert, dass ein bestimmter Teil des Überschusses unseres Vermögens Gott gehört und Er uns
so an der Gnade und dem Nutzen dieses Gesetzes teilhaben lässt. Der Rest - das heißt die übrigen 81 Prozent -
gehöre dem Menschen selbst. Er könne - falls er wünscht -diesen zum Wohl der Menschheit spenden oder auch
nicht. Die Entscheidung darüber sei ganz seine Sache. Ein Teil aber gehört Gott. Wir werden aufgerufen, gewis-
senhaft das Huqúüq(=Rechte) zu bezahlen. Hier sprechen wir nicht von Huqúqu’lláh „spenden", denn Spenden
gehen an den nationalen, lokalen und internationalen Fonds, Huqúqu’lláh wird bezahlt!
Liebe Freunde, ich möchte Ihnen gern einen Weg aufzeigen, von dem ich glaube, dass er uns zur Vergeisti-
gung führen kann. Denn das ist eine Herausforderung, der sich jeder einzelne von uns stellen sollte. Wie erlan-
gen wir eine geistige Entwicklung unseres Selbst?
Ich glaube, dass der Prozess der geistigen Entwicklung auf drei Prinzipien basiert. Das erste: Bestimmte
Handlungen, die uns vom Offenbarer vorgeschrieben worden sind, die wir in dieser Welt ausführen, ziehen rät-
selhafte, hochgeistige Kräfte an. Das heißt, es gibt in den Lehren unserer Religion bestimmte Gebote, an die wir
glauben mit der Überzeugung, dass wenn wir sie befolgen, wir auf eine rätselhafte Art eine geistige Kraft auf
uns lenken. Das ist ein sehr komplexes und für uns schwer verständliches Thema.

Geistige Entwicklung vorantreiben

Zum Glück begann man bereits in der Vorphase des Erscheinens von Báb und Bahá'u'lláh, das Phänomen des
"Magnetismus " wissenschaftlich und systematisch zu erforschen mit dem Ergebnis, dass die Menschheit etwas
über Magnete, magnetische Prinzipien und Magnetismus als ein Phänomen erfuhr. Wir wissen jetzt, dass Mag-
netismus ein Phänomen ist, bei dem die Atome in kleinen Organisationssystemen von zwei entgegengesetzt
gleichen elektrischen Ladungen - Dipole genannt -angeordnet sind. Das Ganze nennen wir magnetische Kraft,
die auch aus der Entfernung wirkt, unsichtbar und doch sehr stark ist.
Der Prozess der geistigen Entwicklung ist oft in den Schriften von Bahá’ú’lláh, 'Abdu'l-Bahá und dem Hüter
mit dem Wort "Magnet" umschrieben worden. Mit Hilfe der Analogie zum Magneten konnten uns die zentralen
Figuren unseres Glaubens dieses wichtige Prinzip veranschaulichen, dass bestimmte Taten, die gemäß Gottes
Order ausgeführt werden, eine starke unsichtbare Kräfte auf sich ziehen.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: "Der Glaube ist ein Magnet, der die Bestätigung des Barmherzigen
anzieht". 'Abdu'l-Bahá sagt: "Gottes Gedenken zieht wie ein Magnet Bestätigung und Beistand an". Und wieder:
"Einigkeit und Harmonie sind der Magnet, der Gottes Bestätigung anzieht". "Die Menschheit auf den rechten
Pfad zu führen, ist ein Magnet, der Beistand und Hilfe Gottes anzieht".
Shoghi Effendi sagt: " Bahá’í-Lehrarbeit ist heute der Magnet, der Gottes Segnungen anzieht". An anderer
Stelle: "Sich der glorreichen Aufgabe der Lehrarbeit zu widmen und die Bahá’í-Prinzipien vorzuleben, erzeugt
den Magnet für den Heiligen Geist. Zum Beispiel beschreibt Bahá’ú’lláh Seine Offenbarung als "Magnet" oder
"Leitbild". An anderer Stelle bezieht sich ‘Abdu’l-Bahá auf Bahá’ú’lláh als Gottesoffenbarer: "Der Herr offen-
barte den Magneten der Seele und der Herzen im Pol dieser Welt".
Dieses erste Prinzip, das dem Prozess der Vergeistigung zugrunde liegt, ist die Anziehung von starken geisti-
gen Kräften durch bestimmte Taten; ein sogenanntes magnetisches Prinzip.
Das zweite Prinzip, das ich im Prozess der geistigen Entwicklung sehe, ist eine Wechselwirkung von Kräften,
die sogenannte "konstruktive Interaktion". Das möchte ich Ihnen anhand eines einfachen Beispiels veranschau-
lichen: Aus unseren Schriften wissen wir, dass Beten geistige Kräfte anzieht. Wenn ich heute ein wenig bete,
dann ziehe ich damit eine bestimmte Menge geistige Kräfte an. Dies wiederum bewirkt, dass ich eine neue, et-
was größere Anstrengung unternehmen kann, was mir mehr geistige Kraft verleihen wird. Also bete ich noch
mehr. Das ist ein sehr einfaches, aktuelles Modell, aber für unsere Absicht ausreichend. Ich bete mehr; das wird
eine größere Menge geistiger Kräfte anziehen. Dann bete ich noch mehr; und das wird eine noch größere Menge
geistiger Kräfte anziehen. Deshalb spreche ich bei diesem Prinzip von einer "konstruktiven Interaktion". Man
fängt mit einer kleinen Anstrengung an, das zieht einige Kräfte an, verstärkt sich; man strengt sich etwas mehr
an und zieht mehr Kräfte auf sich, und so baut sich das auf.
So gesehen praktizieren wir Bahá’í geistige Tugenden: Wir lehren, wir spenden, sind aktives Mitglied unserer
Gemeinde -und das alles tun wir mit dem Vertrauen darauf, dass diese Taten jene geistige Kräfte mobilisieren,
die wiederum unsere Bemühungen verstärken, noch mehr zu tun.
Nur in diesem Licht gesehen können wir jene seltsamen und rätselhaften Worte, die in den Schriften ‘Abdu’l-
Bahá zugeschrieben werden, verstehen. An genau dieser Stelle, als 'Abdu'l-Bahá im Jahr 1912 den Grundstein
dieses prachtvollen Gebäudes legte, soll Er eine seltsame Bemerkung zu den Freunden gemacht haben: "Der
Tempel ist bereits errichtet"!
Im Jahr 1912 hatte man erst einen einzigen Stein in die Erde gelegt. Noch nichts von diesem Gebäude war
vorhanden, aber 'Abdu'l-Bahá sagte: "Der Tempel ist bereits errichtet". Wie ist das zu verstehen? Ich glaube, das
ist genau das, was mit dem Prinzip der konstruktiven Interaktion gemeint ist. Nämlich: Du musst nur anfangen;
alles andere entwickelt sich dann weiter. Den geliebten Freunden, die 1912 dort versammelt waren, wollte ‘Ab-
du’l-Bahá sagen: Ihr habt den ersten Schritt getan; Ihr werdet geistige Kräfte anziehen-, das wird eure Bemü-
hungen verstärkten; Ihr werdet noch mehr tun und größere geistige Kräfte anziehen; bis dann die Zeit gekom-
men ist, dass dieser Tempel auch physisch entstanden ist. Dadurch, dass Ihr 1912 damit angefangen habt, ist der
Tempel bereits erbaut. Das ist also der tiefere Sinn des Prinzips der konstruktiven Interaktion und für den Pro-
zess der Vergeistigung von größter Wichtigkeit.
Ich wünschte, es gäbe nur diese zwei Prinzipien; das Leben wäre soviel einfacher! Es tut mir so leid, Ihnen
sagen zu müssen, dass es auch noch ein drittes Prinzip gibt; nämlich das Prinzip der Prüfungen.
Prüfungen sind unausweichlich; sie sind die Geschichte von Erfolg und Misserfolg im persönlichen wie im
gesellschaftlichen Leben. Denn bei dem Bemühen, geistige Kräfte auf uns zu lenken und diese immer mehr auf-
zubauen, werden wir unablässig geprüft. Wir sind ständig Gegenstand von Prüfungen, immer und immer wie-
der. Und uns wurde gesagt, dass Prüfungen immanent wichtig sind für den Prozess der geistigen Entwicklung.
Wir werden geprüft, ob wir genügend Stärke, Kraft und Ausdauer besitzen, alle Prüfungen zu bestehen, denen
wir bei Not und Elend, bei Verwirrung, bei Kränkung, beim Wunsch, uns ausruhen zu wollen, Schwierigkeiten
aus dem Weg gehen zu wollen und dergleichen ausgesetzt sind. Der Hüter sagt uns, dass dieser Prozess der Prü-
fungen notwendig ist, um die inneren geistigen Kräfte zu stimulieren-, er sagt ' dass diese Prüfungen Gnadenga-
ben sind, die uns befähigen, zu wachsen und uns zu entwickeln.
Wir sollten uns jedoch stets bewusst sein, dass Prüfungen nicht automatisch bestan-

den werden. Die Tatsache, dass wir Gläubige sind, besagt keinesfalls, dass wir diese Prüfungen auch erfolgreich
bestehen werden. Die Geschichte unseres Glaubens lehrt uns wiederholt, dass es Menschen gibt, die bestehen,
und andere, die scheitern - und dennoch geht die Sache Gottes unentwegt ihrer glorreichen Bestimmung entge-
gen.

Mut zum Anderssein

Ich habe für heute Abend als Thema "Die geistigen Prüfungen" gewählt. Die ersten geistigen Prüfungen, auf
die ich aufmerksam machen möchte, sind jene, denen wir uns auf dem Pfad der Vergeistigung unseres Lebens in
einem materialistischen Umfeld stellen müssen. Um zu dieser Vergeistigung zu gelangen, ist es unerläßlich, die
Gefahren auf diesem Weg als solche zu erkennen. Und es ist unbedingt notwendig, unsere Energie mit Ent-
schlossenheit und totaler Hingabe der Durchsetzung der großen moralischen und ethischen Gesetze unseres
Glaubens zu widmen. Und wir müssen uns darüber im klaren sein, dass die Prinzipien, die wir als Bahá’í vertre-
ten, in vielen Fällen radikal anders sind, als jene, die als Standards und allgemeingültige Normen der amerikani-
schen Gesellschaft um uns herum gelten.
Es geht nicht darum, andere zu kritisieren. Unsere Absicht ist, Gottes Pfad zu finden, Seinen nach vom gerich-
teten Weg, während alle menschlichen Elemente sich in großer Aufruhr, Prüfungen, Not und Leiden befinden.
Dieses Ziel werden wir aber nur erreichen können, wenn wir uns voll bewusst werden, dass wir uns auf Ba-
há’u’lláhs Pfad begeben haben. Und Bahá’u’lláhs Pfad ist oftmals deutlich anders als derjenige der Gesellschaft
um uns herum. Nehmen wir ein Beispiel: Das Gesetz der Keuschheit als ein unentbehrliches Element des mora-
lischen Anspruchs der Bahá’í besagt, dass sexueller Verkehr nur erlaubt ist zwischen Menschen verschiedenen
Geschlechts, die miteinander verheiratet sind. Das ist unser Standard, nicht aber der der heutigen Gesellschaft,
in der dies als "puritanisch" diskreditiert und von manchen als "homophobisch" bezeichnet wird. Es gibt auch
andere Bezeichnungen dafür. Aber das ist unser Standard. Das ist, was uns unsere Religion lehrt. Und wenn wir
die Gesetze Bahá’u’lláhs befolgen, begeben wir uns auf einen geistigen Pfad, ohne Rücksicht darauf, ob diese
Gesetze denen der Gesellschaft um uns herum entsprechen.
Wir unterscheiden uns tatsächlich in vielen Fällen ganz wesentlich von den Menschen um uns. Zum Beispiel
unterscheiden wir uns in bezug auf unsere Einstellung zur "Pflicht". Wir sind Menschen, die aus einem Pflicht-
gefühl heraus Dinge tun, die wir vielleicht sonst nicht täten. Wir sind Menschen, die Dinge tun, die schwierig,
unbequem sind.
Warum tun wir das? Bestimmt nicht, weil wir das Bedürfnis haben, uns unbedingt opfern zu wollen, sondern
aus einem Pflichtgefühl heraus. Wir Bahá’í sind pflichtbewusste Menschen. Wir sind disziplinierte Menschen.
Wir sind verantwortungsvolle Menschen. Bei uns gelten Begriffe wie Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit.
Und vor allen Dingen: Wir müssen Prüfungen auf dem Weg der Vergeistigung in einem materialistischen Um-
feld bestehen. Und darüber hinaus müssen wir Mut besitzen, anders sein zu wollen! Mut, uns auf den Pfad Ba-
há’u’lláhs zu begeben, bei unserer Vergeistigung Ausdauer und Beharrlichkeit aufzubringen und allen Meinun-
gen, Kräften und Einflüssen zu trotzen, denen wir in unserem Umfeld ausgesetzt sind.
Die zweite der drei Prüfungen für uns hier in den Vereinigten Staaten betrifft unsere eigene Entwicklung. Es
geht darum, dass wir uns als engagierte Menschen Gedanken machen sollten über die Zukunft der Menschheit
in einer sich ständig wandelnden Welt. Die Sache Gottes erfordert heute immer mehr solche engagierte Men-
schen.
In einem Schreiben bezog sich Shoghi Effendi kurz vor seinem Hinscheiden auf die Zukunft der amerikani-
schen Nation. Eines der Dinge, die er hier erwähnt, weckte in den vergangenen Jahren meine Aufmerksamkeit.
Er sagte damals, dass die amerikanischen Bahá’í sich einer künftigen Herausforderung stellen müssten. Was
meinte er damit?
Er bezog sich auf Herausforderungen in einer Zeit, da Apathie und Lethargie sich breit machen und die geisti-
gen Fähigkeiten lähmen würden. Heute stehen wir dieser Prüfung gegenüber, Apathie und Lethargie zu über-
winden, der Prüfung, dass die Menschen um uns herum immer weniger Eifer und Idealismus an den Tag legen,
weniger Leidenschaft besitzen, um diese Welt zu verändern. Die Gesellschaft um uns herum hat keine Visionen
mehr. Es gibt keine Helden und Heldinnen mehr. Sie sind in Misskredit geraten. Es geht nur noch darum, den
Tag zu überstehen, nur an sich selbst zu denken und sich für niemand zu interessieren; man überlebt oder auch
nicht. Das ist eine harte, grausame Welt, da draußen.
Das ist nicht der Bahá’í-Weg. Wir sind Menschen, die sich für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsord-
nung stark machen. Wir sind aufgerufen, heldenhaft zu sein. Wir sind aufgerufen, Opfer zu bringen. Wir sind
aufgerufen, Ideale zu besitzen und andere Menschen zu lieben. Wir sind Menschen, die eine neue Gesellschaft,
eine neue Zivilisation schaffen wollen. Wir sind Menschen, die künftige, noch ungeborene Generationen lieben
und sich über sie Gedanken machen, die bereit sind, ihr Dasein diesen kommenden Generationen zu widmen,
auf dass sie ein besseres Leben haben mögen, ein Leben in Frieden, in Einheit und Harmonie und der Möglich-
keit, all ihre Potentiale voll zu entwickeln.
Das sind die Ideale, die wir als Bahá’í haben müssen. Wir müssen die Apathie und Lethargie in unserer Ge-
sellschaft überwinden und abschütteln und unseren eigenen Platz finden als Menschen, die sich für die Schaf-
fung einer neuen Welt einsetzen.

Heilung für die Welt

Wie erreichen wir das? Ich glaube, wir als Gläubige benötigen ein tiefes Verständnis für die Rolle des Glau-
bens als Heilmittel für die Nöte der Menschheit. Wir verbreiten nicht einfach nur eine Religion, um eine Welt
voller Religionen mit einer weiteren vollzustopfen. Unser Ziel besteht nicht darin, uns durch die Glau-
bensgemeinschaften der Welt durchzuboxen. Wir sind nicht einfach damit zufrieden, im Jahrbuch des Enzyklo-
pädie Britannica Aufnahme zu finden und erwähnt zu werden als eine anerkannte Religion, die auf der ganzen
Welt verbreitet ist. Wir sind nicht einfach zufrieden damit, nationale oder lokale geistige Räte abzuhalten und
uns in Veranstaltungen und bei besonderen Ereignissen zu versammeln.
Unsere Religion ist die Verheißene Religion aller Zeiten. Unsere Religion ist die der Heilung der Welt, die
nun gekommen ist - nach Tausenden und Abertausenden von Jahren voll von Plagen, Kummer und Leid wäh-
rend der gesamten Menschheitsgeschichte. Wir müssen uns einfach vergegenwärtigen, dass wir uns in der Phase
des Umbruchs der Geschichte der menschlichen Zivilisation befinden. Und wir als Bahá’í sind Werkzeuge für
diese geistige Implantation in den Körper der Menschheit, die in dieser Zeit den schwierigen und leidvollen
Weg beschreitet, um zu einem einzigen, geeinten Wesen geformt zu werden.
In meiner jetzigen Eigenschaft als Mitglied des Universalen Hauses der Gerechtigkeit reflektiere ich manch-
mal über eine vorbehaltlose Aussage in den Schriften Shoghi Effendis. Es ist eine klar definierte Aussage ohne
Wenn und Aber. Er knüpft daran keinerlei Bedingungen und sagt: "Die Nachwelt wird dieses Haus als die letzte
Zuflucht einer dahinsiechenden Zivilisation ansehen". Wenn ich diesen Abschnitt lese, sage ich mir, was ist da-
mit über die Zukunft der Menschheit gesagt? Manchmal, wenn ich im Beratungsraum am Sitz des Universalen
Hauses der Gerechtigkeit bin und meine acht Kollegen um den Tisch herum betrachte, erkenne ich, dass mit
dem Begriff "Universales Haus der Gerechtigkeit" nicht wir neun Personen gemeint sind, sondern ein großes,
prachtvolles geistiges Wesen, dessen schwacher äußerer Ausdruck wir lediglich sind. Aber ich sage mir, diese
Institution, dieses Universale Haus der Gerechtigkeit wird nach vorbehaltloser, bedingungsloser und kategori-
scher Aussage des Hüters von der Nachwelt als der letzte Zufluchtsort einer dahinsiechenden Zivilisation ange-
sehen werden.
Ich erwähne diese Aussage von Shoghi Effendi nur, um auf die großen Umwälzungen, die auf die Menschheit
zukommen, aufmerksam zu machen. Wann genau sie stattfinden werden, wissen wir nicht. Aber wir wissen,
dass sie kommen werden und dass die Sache, deren Mitglieder wir sind, von der Vorsehung dazu bestimmt
worden ist, eine von Grund auf verändernde revolutionäre Rolle in der Geschichte der Menschheit auf diesem
Planeten zu spielen.
Und ich frage mich, ob wir uns denn wirklich bemühen, die Größe und Tragweite der Ziele der Sache zu be-
greifen. Ziele, die bei weitem über das menschliche Begreifen hinausgehen, die letztlich auch nur realisiert wer-
den können durch die Größe und Allmacht Gottes, die Macht, die Bahá’ú’lláh und Seine Offenbarung beseelt
hat. Wenn wir imstande sind, dies zu begreifen, dann können wir auch jene Visionen verstehen, warum wir jetzt
schon engagiert sein müssen und uns dem Wohl der Menschheit widmen sollten.

Eine neue Einstellung

Zuletzt komme ich zur dritten geistigen Prüfung. Meine Sorge und das, was ich als eine sehr gefährliche und
belastende geistige Prüfung für die Bahá’í in den westlichen Ländern - aber auch in anderen Teilen der Welt -
erachte, ist, dass viele Bahá’í heute in einer Gesellschaft leben, die bereits eine bestimmte Haltung und Einstel-
lung gegenüber den gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen entwickelt hat. Die Menschen stehen
grundsätzlich ihrer Regierung und deren Institutionen mit Argwohn und Misstrauen gegenüber. Sie machen die
bittere Erfahrung, dass Regierenden korrupt sind, dass die Bürokratie sie erstickt, ihre Freiheit beschneidet und
in vielen Fällen eine Quelle des Leidens ist.
Die Menschen von heute besitzen kein Gemeinschaftsgefühl mehr. Sie haben durch schlechte Erfahrung ge-
lernt, einander nicht zu vertrauen, auch nicht denjenigen, die ehrlich, aufrichtig und von gutem Charakter zu
sein scheinen. Sie haben einen übertriebenen Sinn für Individualismus entwickelt und legen einen maßlosen
Wert auf ihre persönliche Freiheit.
Menschen in der heutigen Gesellschaft fühlen sich zunehmend machtlos ihren Institutionen ausgeliefert, unfä-
hig, das System zu verändern, dazu verdammt, dieses Elend und die bedrückenden Zustände ertragen zu müs-
sen. Deswegen neigen sie oftmals zu radikalen Aktionen außerhalb des Systems. Manche werden zu Terroristen,
andere zu Anarchisten. Sie wollen das gesamte System abschaffen. Sie sagen - mit einer gewissen Berechtigung
- alles ist besser als das, was wir haben. Dies spiegelt zunehmend den Zustand unserer Gesellschaft wider, wie
er von Bahá’ú’lláh in seinen Sendschreiben an die Könige und religiösen Führer vorhergesagt wurde. Shoghi
Effendi beschreibt detailliert die Evolution der Gesellschaft in der "Phase des kritischen Wandels". In dieser
Zeit leben wir jetzt. Menschen in unserer Gesellschaft haben diese Einstellungen entwickelt, und wenn wir sie
darauf ansprechen, würden sie erschöpfende Rechtfertigungen parat haben, warum das so ist.
Die größte Prüfung, mit der wir als Bahá’í konfrontiert werden, ist, dass wir unbewusst und ungewollt die At-
titüden einer größeren, jedoch allmählich zerfallenden Gesellschaft in unsere administrative Ordnung hineintra-
gen. Das ist unsere Prüfung. Denn wenn wir diese Haltung einnehmen, ohne es selbst zu bemerken, werden wir
den Fortgang der von Bahá’ú’lláh verfügten administrative Ordnung stören und ihr Schaden zufügen. Shoghi
Effendi schrieb vor vielen Jahren zu diesem Thema: "Die heutige Generation scheint hauptsächlich wegen der
Korrumpierbarkeit der Institutionen gegen sie eingestellt zu sein. Die Religion als Institution ist in Misskredit
geraten. Selbst die Institution Ehe ist in Verruf geraten. Wir Bahá’í dürfen uns nicht von solch weitverbreiteten
Meinungen und Ideen verblenden lassen. Wenn das der Fall wäre, würden die Manifestationen Gottes nicht alle
auf denjenigen hinweisen, der nach ihnen kommen würde. Zweifellos sind jene Institutionen korrupt, aber das
liegt nicht in der Natur der Institutionen selbst, sondern das ist bedingt durch Mangel an korrekte Führung sowie
durch die bestehenden Machtstrukturen und den Zustand der Machterhaltung .... Bahá’u’lláhs Absicht ist nicht
die Abschaffung der Institutionen an sich, sondern es geht darum, die nötigen Schutzmaßnahmen dafür vorzuse-
hen, um die Korruption zu eliminieren, die zum Zerfall der vorherigen Institutionen geführt hatte".

Was diese Schutzmaßnahmen im einzelnen sind, ist hochinteressant zu studieren und herauszufinden und es
ist auch äußerst wichtig mehr darüber zu erfahren. Mit anderen Worten, wir sind herausgefordert, uns freizuma-
chen von der weitverbreiteten, um sich greifenden Haltung, Institutionen mit Verdächtigung, Misstrauen und
Geringschätzung gegenüberzutreten, wie es für die Menschen in unserer Gesellschaft charakteristisch ist, um zu
verhindern, dass die Gläubigen dieselbe Haltung gegenüber den Bahá’í-Institutionen einnehmen.
Denn wir dürfen sie auf keinen Fall gleichsetzen. Sie sind nicht gleich. Sie sind sogar radikal verschieden. Un-
sere ist eine Ordnung, bestimmt vom Bahá’ú’lláh, dem Offenbarer Gottes. Diese Ordnung hat Charaktereigen-
schaften. Ihre innere Ordnung befähigt sie, sich von überkommenen Einstellungen und Verhaltensweisen selbst
zu reinigen. Sie ist ganz anders als die weltliche Ordnung. Wenn wir unsere administrative Ordnung damit ver-
mengen, wird dies nur zeitweilig die Sache stören. Unsere eigene persönliche geistige Entwicklung wird aber
einen nicht wieder gut zu machenden Schaden nehmen.
Was können wir tun, um dieser Entwicklung zu begegnen? Wir müssen eine neue Einstellung entwickeln. Wir
müssen zu einem viel tieferen Verständnis für den Bund Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás gelangen. Es genügt
nicht, die Karte zu unterschreiben und zu sagen: 1ch glaube an den Bund-, ich akzeptiere auch die Menschen,
die mit diversen Namen tituliert werden, das wär's". Freunde, das genügt nicht!
Wir werden weggespült werden, denn es gibt gefährliche Kräfte in unserer Gesellschaft. Es gibt heimtücki-
sche Einflüsse. Wir müssen uns schützen - jetzt -, und unsere Schutzmaßnahme ist die Vertiefung über den
Bund Bahá'u'lláhs.
Lassen Sie mich eine und ~~on Shoghi Effendi vorlesen. Er macht dort eine Aussage, die ich selbst niemals
zu sagen gewagt hätte. Ich lese es nur vor, weil es vom Hüter stammt. Er sagt:, " ... dass es notwendig ist, dass
die Gläubigen ihr Wissen und ihre Kenntnis über den Bund Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás vertiefen. Das ist
die Feste des Glaubens für jeden einzelnen Bahá’í, welche ihm befähigt, allen Prüfungen und Angriffen der
Feinde außerhalb des Glaubens standzuhalten ..." Soweit, so gut. Aber jetzt kommt der schwierige Teil.

Freunde, wir haben nicht das Recht, zu urteilen. Als Einzelpersonen dürfen wir nicht über andere urteilen. Ich
kann nicht mit dem Finger auf jemand zeigen und sagen, diese Person gehört zu den oberflächlichen Menschen,
die nur das Intellektuelle würdigen und das Spirituelle unterhöhlen. Ich habe nicht das Recht, eine derartige Be-
hauptung zu machen. Sie können nicht über mich oder über irgend jemand anderen in diesem Raum oder in die-
sem Land Derartiges behaupten. Wir sind nicht dafür da, um Menschen in gut und böse einzuordnen und sie zu
verurteilen. Wir sind auch nicht dafür da, Gegenmaßnahmen denjenigen gegenüber zu ergreifen, die wir sol-
chermaßen eingeordnet haben.
Aber Shoghi Effendi sagt uns, dass es in Bahá’í-Gemeinden auch solche Elemente gibt. Wir sind deshalb ver-
pflichtet, uns geistig gesünder und stärker zu machen, so dass wir diesen gefährlichen und heimtückischen Ein-
flüssen gegenüber immun sind - wer auch immer diese Personen sein mögen und wo immer sie sich befinden,
denn wir urteilen nicht! Unser Ziel ist es demnach nicht, eine Hexenjagd zu veranstalten. Auch nicht auf die
Suche zu gehen und diesem oder jenem ein Etikett zu verpassen. Unser Ziel ist genau das, was uns Shoghi Ef-
fendi gesagt hat: uns im Bund zu vertiefen, so dass wir geistig stark und gesund sind, um deren negativen An-
sichten gegenüber den Institutionen des Glaubens standhalten zu können.

Konstruktive Entwicklung

Es ist also notwendig, dass wir uns mit dieser Art Prüfung beschäftigen, der Herausforderung nämlich, uns ei-
ne neue Ein-& sieht über unsere sozialen Organisationen W~ und Institutionen anzueignen. Dabei müssen wir
auch noch einmal darüber nachdenken, was "kritisieren" eigentlich bedeutet. Es gibt etliche Stellen in den
Schriften, die auf Kritik hinweisen als ein zulässiges und passendes Mittel in der Bahá’í-Beratung und -
Gemeindearbeit; niemand bezweifelt das.
Aus den Schriften geht aber auch hervor, dass es auch sehr gefährliche Arten von Kritik gibt, die Shoghi Ef-
fendi als "boshaft und negativ" beschreibt: "Kritiken und Diskussionen von negativem Charakter, die die Auto-
rität des Rates als Institution aushöhlen könnten, müssen strikt vermieden werden". Und ich denke, die meisten
Menschen sind klug genug, den Unterschied zu kennen. Es gibt jedoch andere, die Wege finden werden, sich
über Gesetze und Vorschriften zu stellen. Denn das ist eher eine Frage der Sicht und Einstellung als der bloßen
Worte.
Wir arbeiten in Richtung einer sich konstruktiv entwickelnden Bahá’í-Gemeinde, die zwar nicht vorgibt, in ih-
rer weiteren Entwicklung und bei der Verfeinerung und Verbesserung ihrer Arbeits- und Verhaltensweisen
gänzlich immun zu sein, die aber weitgehend frei ist - wie es der Hüter nennt - von jeglichem Kritisieren negati-
ver Art, das dazu führen würde, die Autorität des Rates zu unterminieren.
Eine der liebsten und höchst unfruchtbaren und destruktiven Beschäftigungen mancher Bahá’í-Gemeinden ist
die Spekulation über "Heimsuchung". Es gibt eine Stelle, wo Shoghi Effendi sagt, dass wir nicht wissen, auf
welche Art und Weise wir heimgesucht werden, dass wir jetzt schon heimgesucht werden, und so weiter. Es gibt
aber eine Stelle, wo der Hüter uns sagt: Das ist Heimsuchung! Endlich wissen wir's!
Der Brief ist im Namen Shoghi Effendis geschrieben, datiert vom 18. Dezember 1949, veröffentlicht in Bahá’í
News vom Juli 1950. Und was sagt er? Er beschreibt Heimsuchung und sagt: "Boshafte Kritik ist in der Tat
Heimsuchung. Der tiefere Grund jedoch ist Mangel an Glauben in die Ordnung Bahá’u’lláhs (das heißt in die
administrative Ordnung) und Mangel an Gehorsam Ihm gegenüber - denn Er hat es verboten. Wenn die Gläubi-
gen die Bahá’í Gesetze befolgen würden - an aktiver und passiver Wahl teilnähmen, sich dem Dienst an der Sa-
che stellten, die Beschlüsse ihres Rates befolgten -, so würde sich die Energieverschwendung, die durch das Kri-
tisieren von anderen Menschen entsteht, in Zusammenarbeit und Kooperation umwandeln ......
Um zu einer neuen Einstellung gegenüber unseren sozialen Organisationen zu gelangen, müssen wir uns ers-
tens über den Bund vertiefen und zweitens die Art unserer Kritik überdenken, denn sie ist durchaus ein kon-
struktives Element der Bahá’í-Beratung.

Die Institutionen lieben

Das dritte Element, das ich erwähnen möchte, ist höchst revolutionär. Es bezieht sich auf eine Aussage von
Shoghi Effendi, als er einmal gefragt wurde, welche Voraussetzungen denn erfüllt sein müßten, um den Eintritt
einer großen Anzahl von Menschen in die Sache zu bewirken. Und er nannte vier Voraussetzungen; darunter
sind drei klar und verständlich, eine davon jedoch sehr ungewöhnlich.
Er nannte die Voraussetzungen, ohne die niemals wirklich eine große Anzahl von Menschen in die Sache ein-
treten würde: "... ohne den Geist wirklicher Liebe für Bahá’ú’lláh, für seinen Glauben und für die Institutionen
und ohne Liebe der Gläubigen zueinander". Drei davon sind klar: Wir erwarten, dass die Gläubigen Bahá’ú’lláh
wirkliche Liebe entgegen bringen; wir erwarten, dass sie seine Sache lieben; wir erwarten und hoffen, dass die
Bahá’í-Freunde einander lieben.
Wir müssen aber noch eine vierte Voraussetzung erfüllen, nämlich eine wirkliche Liebe gegenüber den Insti-
tutionen des Bahá’í-Glaubens entwickeln. Das ist eine absolute Neuheit in der Bahá’í-Offenbarung. Wo finden
Sie Menschen, die Ihnen sagen würden: "Ich liebe das Landesparlament von Illinois! ". Wo finden Sie jemand,
der sagt: "Ich liebe das Repräsentantenhaus!"; ich liebe den Senat!". Vielleicht findet sich einer, der ruft: "Ich
bin verliebt in den Bundesgerichtshof', falls er einmal dort Recht bekommen hat. Wo finden Sie jemand, der
sagt: "Ich liebe die Kommunalverwaltung". Das ist ein Fremdwort im westlichen Gedankengut; das ist fremdar-
tig; das ist radikal. Heute gilt: Je weniger Regierung, desto besser.
Wir Bahá’í aber operieren in einer ganz anderen Richtung. Wir sind nicht 60 Grad davon entfernt, nicht 90
Grad oder 150 Grad, sondern 180 Grad. Wir marschieren in die entgegengesetzte Richtung. Weil unsere Religi-
on uns sagt, dass ohne den Geist einer wirklichen Liebe zu den Institutionen der Sache der Eintritt einer größe-
ren Zahl von Menschen nicht möglich sein wird.
Es ist sicher leicht, phantastische und gut funktionierende Institutionen zu lieben. Wenn Sie in einer Gemeinde
leben, wo der lokale Geistige Rat großartige und wunderbare Dinge tut, klar, dass sie ihn lieben können. Aber
wären Sie auch imstande, eine Institution zu lieben, die unvollkommen funktioniert, sich noch im Stadium der
Entwicklung befindet, eine Institution, die Fehler macht, die Probleme hat mit ihrer Einheit, mit ihren Aktivitä-
ten und mit ihren Aufgaben und vergisst, Ihnen wichtige Sachen mitzuteilen und dergleichen?
Das ist unsere Herausforderung. Wie können wir das ohne Heuchelei bewerkstelligen? Genau in der Art und
Weise, wie Eltern ihr Kind lieben. Wenn das Kind einen Fehler gemacht hat, sich schlecht benimmt, krank ist
oder Probleme hat mit gesellschaftlichen Umgangsformen, lieben es die Eltern trotzdem, weil sie in dem Kind
das Entwicklungspotential sehen. Durch Liebe und Führung entwickelt sich das Kind weiter und trägt zur Ver-
vollkommnung seiner Potentiale bei. Durch Kritik und Mangel an Liebe verkümmert jedoch sein Wachstum,
und es kann sich niemals weiterentwickeln.
Genauso ist es, wenn wir aufgerufen werden, unsere Institutionen zu lieben,

nicht künstlich, nicht heuchlerisch, sondern aus dem tiefen Glauben heraus, dass diese Institutionen von Ba-
há’ú’lláh dazu bestimmt worden sind, einer leuchtenden, großartigen Zukunft entgegenzusehen. Durch Liebe
und Führung, Unterstützung, Mitgefühl und Verständnis werden sie wachsen und sich entfalten.
Das ist die Liebe, die wir suchen; radikal verschieden von den durch Kritik, Verdächtigung, Verderbtheit und
Korruption geformten Einsichten, wie sie von den Menschen in unserer Gesellschaft ihren dem Untergang und
der Zerstörung preisgegebenen Institutionen entgegengebracht werden.

Wir haben die Wahl

Es ist wohlbekannt, dass die amerikanische Bahá’í-Gemeinde mit großen Potentialen ausgestattet ist. ‘Abdu’l-
Bahá hat diese Gefilde mit seinen Fußspuren gesegnet. Er überhäufte dieses Land mit Liebe und Zuneigung.
Shoghi Effendi schrieb die meisten seiner Sendbriefe an die amerikanischen Bahá’í. Er bezeichnete sie als die
Hauptvollstrecker des "Tablets zum Göttlichen Planes". Und ich kann Ihnen versichern, dass das Universale
Haus der Gerechtigkeit die Bahá’í-Gemeinden und ihre Institutionen liebt, genauso wie die Freunde in diesem
Land vom Meister und vom Hüter mit Liebe überschüttet wurden. Wir wenden uns mit großem Vertrauen und
viel Zuversicht der amerikanischen Bahá’í-Gemeinde zu und - wenn Sie es erlauben - mit Stolz auf die Potentia-
le und die Größe, die diese Gemeinde innehat.
Es gibt keinen Zweifel darüber, dass die in den Schriften bezüglich der glorreichen Zukunft und der Bestim-
mung der amerikanischen Bahá’í-Gemeinde gemachten Versprechen sich voll und ganz verwirklichen werden.
Alles, was ‘Abdu’l-Bahá darüber gesagt hat, wird sich bewahrheiten. Es wird geschehen. Das ist unumgänglich.
Es gibt keinen Zweifel darüber.
Zweifel wären eher angebracht bei der Frage, wo wir - Sie und ich - dann stehen. Werden wir Teil dieser gro-
ßen Entwicklung sein? Werden wir Teil dieser Siege sein? Werden wir diese gefährlichen und herausfordernden
geistigen Prüfungen, denen wir heute schon gegenüberstehen, bestanden haben? Wird es uns vergönnt sein, auf
dieser Siegeswelle zu reiten oder werden wir weggespült werden? Werden wir tatsächlich zu jenen gehören, die
im Lauf der Bahá’í-Geschichte die über sie gekommenen Prüfungen bestanden haben? Wir haben die Wahl!
Wir haben die Wahl! Freunde, wir haben die Wahl!

Übersetzung:
Fereshteh und Michael von Joeden

Ansprache von Peter Khan im September 1995 in der Foundation Hall des Hauses der Andacht in Illinois – Geistige Prüfungen
BN Juni 1996 P:\Verwaltg\Vertragsverwaltung\Zimmel\Sonstiges\Graphik-Spezial\Prüfungen2.doc Seite: 9 von 8
BN Juni 1996 Seite: 1 von 8

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